Alle Kinder mögen Eis
Ein Beitrag von Anke Schöttler.
Frühlingshafte Temperaturen in Hamburg. Die ersten warmen Sonnenstrahlen lassen die Sommersprossen auf der Nase eines zwölfjährigen Rotschopfs tanzen. Es ist Zeit für das traditionelle erste Eis des Jahres bei der Eisdiele “Filippi”.
Verstanden werden ist keine Selbstverständlichkeit
Kinder mit Einschränkungen oder Verzögerungen im Bereich der Sprachentwicklung und Kinder, die Deutsch als Zweitsprache lernen, stehen alltäglich vor einer Kommunikationsbarriere: sie werden nicht verstanden. So geht es auch meinem Sohn Lasse. Aufgrund seiner Behinderung spricht er noch sehr undeutlich, kann noch nicht lesen und schreiben. Nicht verstanden zu werden macht Lasse oft traurig und frustriert die Kinder, die sich mit ihm unterhalten und mit ihm spielen wollen. Häufig versteht sein soziales Umfeld ihn nur mit Unterstützung durch seinen Talker (Sprachcomputer) oder wenn jemand für ihn dolmetscht. Durch den Einsatz von Gebärden hat Lasse mehr Selbstständigkeit und Teilhabe erreicht – sowohl am Lernort als auch in der Freizeit. Seine Kamerad*innen in der inklusiven Kita und anschließend in der inklusiven Grundschule haben diese Möglichkeit, Lasse besser zu verstehen, begeistert angenommen. Sie haben gemerkt: wenn sie ihre Lautsprache mit Gebärden unterstützen, versteht Lasse sie besser. Und wenn Lasse seine Sprache mit Gebärden begleitet, verstehen sie ihn auch besser.
Aufbau einer gemeinsamen Kommunikationsbasis
Verständnis füreinander fängt damit an, einander verstehen zu können. Keine geteilte Sprachebene für diesen Austausch zu haben, ist eine Barriere. Wenn Kinder schon früh eine Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten kennenlernen, gehen sie auch später im inklusiven Miteinander selbstverständlich mit unterschiedlichen Sprachen und Menschen um. Deshalb kam ich auf die Idee zu einer inklusiven Sprachlern-App. Einem digitalen Wörterbuch für die Hosentasche, mit dem jede/r* einen Grundwortschatz an Gebärden lernen kann. Mittlerweile unterstützt die EiS-App Kinder wie Lasse, ihre Lernbegleiter*innen, Lehrkräfte, Erzieher*innen, Therapeut*innen, Familien, Freunde und Freizeit-Assistenzen dabei einen geteilten Grundwortschatz an Gebärden zu lernen. So kann ein gemeinsames Gebärdenwissen und -verständnis aufgebaut werden. Mit der EiS-App lassen sich vielfältige Sprachebenen entdecken: visuell, auditiv, symbolisch und schriftlich.
Deshalb ist die EiS-App aus vier Modulen aufgebaut:
- Einem METACOM-Symbol, das den Begriff bildlich darstellt und einen visuellen Anker für die Navigation in der App darstellt. So können Nutzende die App bedienen, auch wenn sie (noch) nicht lesen und schreiben können.
- Einem Audio-Beispiel des Begriffs mit authentischem Sprachvorbild – eingesprochen von Kindern im Tonstudio.
- Einem Gebärdenvideo, als visuelles Vorbild bei dem Gebärden aus der Deutschen Gebärdensprache (DGS) lautsprachunterstützend eingesetzt werden.
- Einem Wort, das das Schriftbild anbietet und ein Leseangebot macht.
METACOM-Symbole (https://metacom-symbole.de/) sind ein Symbolsystem für die Unterstützte Kommunikation. Die Grafikerin Annette Kitzinger hat die Symbole besonders klar und leicht verständlich gestaltet.
Der Wortschatz in der EiS-App orientiert sich am Kernwortschatz nach Prof. Dr. Jens Boenisch und Dr. Stefanie Sachse vom Forschungs- und Beratungszentrum (FBZ) für Unterstützte Kommunikation der Uni Köln.
Die Wissenschaftler*innen haben in mehreren Forschungsprojekten den Sprachgebrauch von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderungen untersucht. Sie wollten wissen welche Wörter in der Alltagskommunikation besonders wichtig sind. Die Untersuchungen haben gezeigt: 200 Wörter machen 80 Prozent des Gesprochenen aus. https://www.hf.uni-koeln.de/34091
Die Gebärden, die in der EiS-App genutzt werden, stammen aus der Deutschen Gebärdensprache (DGS). Bei der Ausführung wird das Wörterbuch von Karin Kestner zugrunde gelegt. https://web.kestner.de/das-grosse-woerterbuch-der-dgs-version-3-einfuehrung/
Es steht nicht nur inklusiv dran, sondern ist auch drin
Beim Design der App wurde darauf geachtet, dass sie leicht zu navigieren ist und ohne ablenkenden Schnickschnack wie Einhornstaub und Feenglitzer auskommt.
Übersicht des Wörterbuchs auf dem Smartphone (große Kacheln)
© Wörterfabrik für unterstützte Kommunikation UG
Übersicht des Wörterbuchs auf dem Smartphone (kleine Kacheln)
© Wörterfabrik für unterstützte Kommunikation UG
Die METACOM-Symbole bieten die Möglichkeit, Begriffe zu finden, ohne lesen und schreiben zu können. Jedes Kind soll die Applikation selbstständig und mit Spaß bedienen können. Nutzende die bereits lesen und schreiben können, kommen über die Suchfunktion schnell ans Ziel.
Suchfunktion
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Jeder Begriff ist aus vier Modulen aufgebaut: METACOM-Symbol, Audio, Gebärdenvideo und Wort. Das multimodale Begriffsangebot bietet allen Nutzenden eine Kommunikationsebene auf der sie sich ausdrücken können.
Kinder lernen alternative Ausdrucksmöglichkeiten kennen, mit Hilfe derer sie Kinder mit sprachlichen Einschränkungen leichter verstehen.
Detailansicht des Begriffs alle
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Das Besondere an der EiS-App ist, dass die Gebärdendarsteller*innen Kinder mit und ohne Behinderungen sind. Die Applikation soll keine weitere Lernsituation darstellen, in der Erwachsene Inhalte vermitteln. Hier lernen Kinder von- und miteinander.
Die EiS-App zeigt, dass jedes Kind mitmachen und ein Lernvorbild sein kann.
Die Produktion der Videos wird von einer Gebärdensprachdolmetscherin begleitet. Sie übernimmt das Gebärden-Coaching mit den Kindern. Die Audioaufnahmen sind authentische Sprachaufnahmen aus dem Tonstudio, eingesprochen von Kindern.
© Wörterfabrik für unterstützte Kommunikation UG
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EiS-App im Einsatz
Die EiS-App dient der Begriffsbildung, der Wortschatzerweiterung und hilft Kommunikations-Barrieren abzubauen. Sie ist bereits in Kitas, Grund- und Förderschulen, bei Therapeut*innen und in Familien im Einsatz.
Das Feedback ist überaus positiv:
- Lehrkräfte loben die Zeitersparnis, nicht mehr für jedes Kind händisch die Module aus unterschiedlichen Quellen zusammensuchen zu müssen.
- Die spontane Verfügbarkeit auf dem Handy oder Tablet unterstütze die Kommunikation direkt in der Situation, in der Worte oder Gebärden fehlen – mit unendlicher Geduld für Wiederholungen.
- Kinder die lautsprachlich noch nicht so mutig sind, konnten sich mittels Gebärden leichter an Gesprächen beteiligen.
- Das Design und die leichte Navigation befähigte alle Kinder sich spontan in der App zurechtzufinden und diese intuitiv zu bedienen.
- Die Rückmeldung, über die sich das Entwickler*innen-Team am meisten gefreut hat, ist dass Kinder mit Behinderung sich in den Gebärdendarsteller*innen wiedererkennen. Das finden sie cool und sind motiviert die Gebärden zu imitieren.
Wie geht es weiter?
Die inklusive Sprachlern-App wird anhand des Feedbacks und der Wünsche der Nutzenden weiterentwickelt. Ganz oben auf der Wunschliste steht natürlich der Wortschatz-Ausbau. Corona zum Trotz konnten – unter strengen Hygienemaßnahmen – bereits weitere Videos produziert und Audios aufgenommen werden. Jetzt verknüpfen wir diese mit den METACOM-Symbolen und verschlagworten die Begriffe. Dann können sich alle EiS-Liebhaber*innen auf noch mehr Lernstoff freuen.
Das Team der EiS-App ist sehr an Austausch und Kooperation interessiert und freut sich jederzeit über eine Kontaktaufnahme. (https://www.eis-app.de/kontakt/)
Gastautorin
© Anke Schöttler
Anke Schöttler ist die Gründerin der Wörterfabrik für Unterstützte Kommunikation. In einem interdisziplinären Team (https://www.eis-app.de/ueber-uns/) entwickelt sie Eine inklusive Sprachlern-App, die EiS-App. Sie lebt in Hamburg. Die Idee zur App ist aus den sprachlichen Barrieren entstanden, die sie täglich im Alltag mit ihrem Sohn erlebt. Bevor sie zur App-Entwicklerin wurde, hat sie als Projektmanagerin bei der Deutschen Presse-Agentur (dpa) gearbeitet.