Kinderrechtsbasierte Leseförderung in Hort und Ganztag
Ein Beitrag von Johannes Freund
Hort und Ganztag sind wunderbarere Orte für Leseförderung. Dieser Erkenntnis folgend setzen wir bei der Kinderrechtsorganisation Save the Children mittlerweile im vierten Jahr das Projekt „LeseOasen – Leseförderung im Ganztag“ um. Dabei freuen wir uns, in der aktuellen Phase FRÖBEL mit an Bord zu wissen. An vier FRÖBEL-Horten im Südosten Brandenburgs werden wir gemeinsam LeseOasen schaffen.
In unserem durch die Postbank geförderten Projekt ist die Gestaltung dieser lesefreundlichen Räume der erste Schritt. Partizipativ mit den Kindern werden Rückzugs- und Wohlfühlorte zur Auseinandersetzung mit Büchern geschaffen. Ist der Raum eingerichtet, werden Kinder zu dem freizeitpädagogischen Leseförderprogramm „An die Geschichten, losgelesen“ eingeladen. Das Angebot haben wir zu Beginn des Projektes gemeinsam mit der Goethe-Universität Frankfurt am Main entwickelt und bisher an über 50 Einrichtungen umgesetzt.
Doch warum engagieren wir uns als weltweit größte unabhängige Kinderrechtsorganisation in der Leseförderung? Welche Bezüge bestehen zwischen Kinderrechten und Leseförderung? Wo spielen die Bildungs- und Förderrechte, Teilhabe- und Partizipationsrechte sowie die Schutzrechte eine Rolle und wie können die Kinderrechte dazu beitragen, Leseförderangebote wirksamer zu gestalten?

Leseförderung und das Recht auf Bildung
Der Zusammenhang zwischen Bildungsrechten und Leseförderung ist naheliegend. In Artikel 17 der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) verpflichten sich die Staaten beispielsweise, die Herstellung und Verbreitung von Kinderbüchern zu fördern. Und auch in vielen anderen Kinderrechten finden sich Berührungspunkte zur Leseförderung. Lesen ist eine Schlüsselkompetenz, nicht nur für eine erfolgreiche Bildungsbiografie in und nach der Schule, sondern auch für Teilhabe an vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Alle Kinder haben die gleichen Chancen verdient, erfolgreich Lesen zu lernen.
Doch die Realität sieht anders aus. Studien wie die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) oder der IQB-Bildungstrend führen uns stets aufs Neue vor Augen, dass es einen Zusammenhang zwischen der familiären, sozialen Herkunft der Kinder und Risiken im Erwerb von Lesekompetenz gibt. Damit das Recht auf Chancengleichheit in der Bildung (Art. 28 UN-KRK) verwirklicht wird, damit es gelingt, die Persönlichkeit, die Begabung und die geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Kindes voll zur Entfaltung zu bringen (Art. 29 UN-KRK), müssen wir allen Kindern erfolgreiche Zugänge zum Lesen und zu Büchern ermöglichen.
Wollen wir nun Kinder mit geringer ausgeprägter Lesekompetenz fördern, so brauchen wir eine gute Vorstellung von der erhofften Wirkung. Leseanimierende Angebote, die Freude am Lesen versprechen, ohne zugleich die technische Ebene zu stärken, können für wenig geübte Kinder sogar gegenteilige Effekte haben. Hier besteht das Risiko, dass die Mühen des Lesens die Freude an den Geschichten überwiegen. Ganzheitliche Leseförderangebote nehmen hingegen alle Ebenen von Lesekompetenz in den Blick. In unserem Projekt verfolgen wir daher eine Kombination aus animierenden Verfahren und spielerischen Lesetechnik-Trainings.
Geschützte Räume zum Lesen
Lesen lernen ist eine Meisterleistung, die Respekt und Anerkennung verdient. Um aus Buchstaben Wörter, um aus Wörtern Sätze zu bilden und um aus Sätzen Sinn zu entnehmen, braucht es viel Übung und Ausdauer. Eine positive und fördernde Lernumgebung hierzu sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Doch leider kann der Prozess des Lesenlernens für Kinder mit Kränkungen und Demütigungen verbunden sein. Die im Deutschunterricht immer noch übliche Methode des Reihumlesens ist prädestiniert, um Kinder mit Schwächen beim Lesen in Situationen zu bringen, in denen sie sich bloßgestellt fühlen können: Der schon in der Grundschule früh einsetzende Noten- und Leistungsdruck tut oftmals sein Übriges.
Die Ganztagsbetreuung wiederum birgt die Chance, Kindern eine geschützte Umgebung zu bieten, in der sie sich ohne Leistungsdruck auf den Prozess des Lesenlernens einlassen können. Oder wie es ein Kind im Rahmen der Evaluation unseres Projektes sagte:
„Laut lesen in der Schule ist doof, da wird man immer ausgelacht. Aber hier ist das okay.“
Damit es gelingt, diese positive und geschützte Atmosphäre herzustellen, braucht es klare Regelungen zum Umgang aller Beteiligter miteinander. Doch dabei ist keineswegs gemeint, dass Kinder die Hausregeln auswendig lernen und aufsagen sollen. Wir sehen in unserem Projekt vor, dass die Kinder sich selbst Regeln zum Umgang miteinander geben. Und damit Kinder diese geschützte Umgebung vorfinden, hilft es, ihnen und uns deutlich zu machen, dass auch für uns Erwachsene Regeln zum Umgang mit Kindern gelten und sie das Recht haben, sich auch über unangemessenes Verhalten von uns zu beschweren.

Kinder als Gestaltende wahrnehmen
Angebote der Leseförderung dürfen sich nicht damit zufriedengeben, dass sie Kindern Zugänge zum Lesen und zu Büchern ermöglichen und somit die sprichwörtlichen neuen Welten aufschließen. Erfolgreiche Leseförderangebote holen Kinder dort ab, wo sie mit ihren Interessen und ihren Selbstbildern stehen. Hierfür braucht es eine fragende und erkundende Haltung, die Kinder schon früh als Gestaltende einer Lesekultur wahrnimmt.
Die Partizipation der Kinder bei der Gestaltung der lesefreundlichen Räume bildet die Basis für lesebezogene Selbstwirksamkeitserfahrungen. Kinder werden als Expert*innen und Gestaltende ihrer Lebenswirklichkeit eingebunden. Sie selbst definieren, was gemütliche und einladende Räume ausmacht.
Doch die Beteiligung der Kinder darf nicht bei schönen Partizipationsmethoden wie dem Basteln von LeseOasen im Schuhkarton oder dem Gestalten von Collagen stehen bleiben. Wichtig ist, dass die Entscheidungen der Kinder ernst genommen und umgesetzt werden. Dort, wo es triftige Gründe gibt, warum Wünsche nicht realisiert werden, haben die Kinder eine offene Rückmeldung verdient. Und oft erleben wir kreative Lösungen, wie sich auch die scheinbar abwegigsten Ideen in den fertigen Räumen wiederfinden können.
Auch an der konkreten Umsetzung der Ideen wollen wir die Kinder mit einbinden. Einige Horte und Ganztage in unserem Projekt haben mit den Kindern Ausflüge in Möbelhäuser organisiert, Räume gemeinsam gestrichen oder die Möbel mit den Kindern zusammen aufgebaut. Auch weniger leseaffinen Kinder werden so im Rahmen der Ganztagsbetreuung Erfolgserlebnisse im Zusammenhang mit Literatur und Büchern ermöglicht.
Kinderrechte in und durch Kinderbücher
Das Selbstbild von Kindern als Lesende und als Teilnehmende an einem literarischen Diskurs ist ein wichtiger Bestandteil von Lesekompetenz. Damit dies gelingt, müssen es Angebote der Leseförderung allen Kindern ermöglichen, sich mit ihrer Lebenswirklichkeit in den Büchern wiederzufinden.
„Ich mag das Buch, weil es nah an der Heimstadt meiner Mutter ist“,
berichtete ein Kind im Rahmen der Evaluation von seinen Erfahrungen im Projekt. Die Botschaft ist einfach und klar: Ich mag das Buch, weil ich einen Bezug zu ihm finden kann und es etwas mit meinem Leben zu tun hat.
Damit dies gelingt und sich alle Kinder in Literatur repräsentiert finden, brauchen wir eine vorurteilsbewusste und vielfältige Auswahl an Kinderbüchern. Wir müssen unseren Blick dafür schärfen, welche sozialen Schichten und Milieus in den Geschichten geschildert werden und welche Rollen Menschen zugeschrieben werden, die in Familien mit Flucht- oder Migrationsgeschichte aufwachsen. Gerade vor dem Hintergrund der oben genannten Studien, die einen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft oder familiären Zuwanderungsbiografien und Lesekompetenz belegen, ist eine vielfältige Buchauswahl kein nettes Extra, sondern die Basis für erfolgreiche Leseförderung.
Auf der anderen Seite können in der Auseinandersetzung mit Geschichten, die einen Bezug zum Leben der Kinder haben, Kinderrechte ganz selbstverständlich thematisiert werden. In vielen Kinderbüchern sind die Kinderrechte enthalten, auch wenn sie vielleicht nicht explizit benannt werden. Themen wie Erfahrungen mit Diskriminierung und Ausgrenzung, Armut, Trennung von Eltern oder die Berücksichtigung des Kindeswillens werden ganz konkret in den Geschichten sichtbar. Über verschiedene Methoden der Leseförderung wie das dialogische Vorlesegespräch oder kreative lesebezogene Aktivitäten können Kindern anhand der Bücher ihre Rechte vermittelt werden.

Gelingende Leseförderung im Hort und Ganztag dank Kinderrechte
In den oben genannten Beispielen haben wir die Zusammenhänge zwischen gelingender Leseförderung und den Kinderrechten auf Bildung, Schutz und Partizipation beleuchtet. Dabei wurde deutlich, dass wirkungsorientierte Leseförderung zugleich immer auch kinderrechtsbasierte Leseförderung ist. Oder anders formuliert: Bildungsgerechtigkeit braucht Leseförderung, aber gelingende Leseförderung braucht die Kinderrechte. Hort und Ganztag sind ein wunderbarer Ort für diese kinderrechtsbasierte Leseförderung.
Verweise
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Freund, Johannes: „Wie Kinderrechte die Leseförderung stärken. LeseOasen – ein Projekt im Ganztag“ In: JuLit: Abgehängt?! Bildungs- und Teilhabe-Chancen auf dem Prüfstand. 3/2022, S. 24-30.
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Zum Weiterlesen
Weitere Artikel zu den Kinderrechten und deren Umsetzung finden Sie im Pädagogik Blog unter der Kategorie „Rechte von Kindern“.
Informationen zur Kooperation zwischen Save the Children und FRÖBEL und der Entstehung von LeseOasen in FRÖBEL-Horten finden Sie hier.
Gastautor

Johannes Freund leitet im Fachbereich Bildung der Kinderrechtsorganisation Save the Children Projekte im Kita- und Grundschulbereich. Seit 2018 verantwortet er das Projekt „LeseOasen – Leseförderung im Ganztag“, das bisher an über 50 Einrichtungen der Ganztagsbetreuung umgesetzt wurde.