Wir können kochen
Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 7/2022 der Zeitschrift ELTERN erschienen. Wir danken der ELTERN-Redaktion und der G+J Verlagsgruppe für die Genehmigung, den Text erneut veröffentlichen zu dürfen.
Lange waren die Mahlzeiten ein Frustthema – bis man in dieser Kölner Kita auf die Idee kam, die Zwei- bis Sechsjährigen aktiv ins Kochen einzubeziehen. ELTERN-Autorin Elisabeth Hussendörfer zu Besuch in einem FRÖBEL-Kindergarten, in dem die Kinder lernen, das Essen zu lieben.
Eigentlich gibt es im Eingangsbereich des FRÖBEL-Kindergartens An den Clouthwerken in Köln viel zu sehen: Afrikanische Riesenschnecken zum Beispiel oder eine Kolonie Blattschneideameisen. Für Luis, 2, der gerade angekommen ist, zählt aber wie jeden Morgen nur eins: Was wird heute gekocht?
Zielstrebig marschiert er auf ein großes Panoramafenster zu, hinter dem sich die Küche verbirgt. Hygienevorschriften machen den Bereich für die Kinder zur No-go-Area, aber durch die Scheibe kann man immerhin sehen, was geht. Gerade wuchtet Koch Heiko Mezger im Eiltempo Kartoffeln in dampfende Töpfe auf dem Herd. Als er Luis entdeckt, hebt er die Hand zum Gruß: Hallo Kollege!
Heiko kocht hier nicht nur, er macht die Zubereitung des Kita-Essens zum Teamplay – etwa, indem er gemeinsam mit den Kindern Essenspläne austüftelt. „Wir wollen sie bei diesem Thema maximal einbeziehen“, erklärt Kita-Leiterin Rosa Mendes auf dem Weg in die „Genusswerkstatt“ im ersten Stock, in der auch zwei Tage vor Ostern tüchtig gewerkelt werden soll. Feste Gruppen gibt es nicht in FRÖBEL-Kitas, die Kinder können jeden Morgen aufs Neue entscheiden, in welchem Raum sie aktiv sein wollen. Heute können sie zum Beispiel im Garten Eier mit Naturfarben färben oder in der Theaterwerkstatt der Frage „Wie fühlt sich ein Hase?“ nachspüren. Oder aber in der Genusswerkstatt das Kochangebot „Von der rohen Kartoffel zum fertigen Kloß“ wahrnehmen.
Als im Morgenkreis gefragt wird, wer was machen will, ist klar, wie Luis’ Antwort ausfällt. Kurz darauf ist er Teil einer achtköpfigen Crew: fünf Mädchen, drei Jungs. Alle wissen genau, was zu tun ist: Langes Haar wird mit Gummibändern zusammengebunden, Schürzen werden übergestreift, Schneidebrettchen gegriffen. Töpfe mit Kartoffeln, Reiben, eine Kartoffelpresse und eine Schüssel mit Speisestärke machen neugierig auf das, was jetzt passiert. „Wer von euch hat schon mal Knödel gegessen?“, möchte Lisa Kalthoff, die das Team der Genusswerkstatt als pädagogische Fachkraft komplett macht, wissen.
„Ihhhiich“, jubelt die vierjährige Emmi, um dann allerdings zu ergänzen: „Die mag ich nicht!“ „Ich habe die schon mal bei meiner Oma probiert. Das war nicht so lecker“, meint die fünfjährige Joana zustimmend. Noch deutlicher wird Luis: „Knödel??“ Kommentar des Zweijährigen: ein gedehntes, von einer rausgestreckten Zunge begleitetes „Bäh!“.
Küchenchef Heiko wird später sagen, solche Momente hätten ihn früher fast in die Verzweiflung getrieben. Wann immer er mit dem Küchenwagen kam und die Schüssel auf den Tischen abstellte, wusste er: Ein Großteil würde sowieso wieder zurückgehen. „Du musst halt anders kochen“, meinten die Erzieherinnen und Erzieher. „Ihr müsst eure Schützlinge halt besser zum Essen motivieren“, konterte er.
„Es war schlimm, wie sich alle gegenseitig die Schuld dafür gaben, dass die Kinder so wenig aßen“, sagt Rosa rückblickend. Sie hat die Leitung der jetzt fünf Jahre alten Kita vor drei Jahren übernommen und lebt das offene Konzept des Hauses mit Leidenschaft. „Beim Essen hieß es: ran an die Tische, rein in die Mägen. Oft war die Prozedur in wenigen Minuten erledigt.“ So konnte das nicht weitergehen! Das bewusste Essen gehörte auf die Agenda.
Zunächst starteten sie mit Aktionen: Müsli mixen, Marmelade kochen, Mehl sieben. Ein Zimmer, das bislang nur als Essensraum genutzt wurde, wurde neu ausgestattet: Arbeitsplatten und Herd auf „Kinderniveau“, Küchenwaagen, Kaffeemühlen für das experimentelle Auseinandersetzen mit Lebensmitteln. Mitarbeitende brachten Rezepte, das Team war voller Ideen. Doch bei Rosa hielt sich die Begeisterung in Grenzen: „Schon mittags war das Essen wieder das übliche Zweckding. Da sind unsere Kinder viel zu lange Konsumierende geblieben.“
Vor zweieinhalb Jahren dann der Wendepunkt. Von unzähligen Gesprächen und Brainstormings mit dem Koch berichtet Rosa: Was konnte man tun, um die Sache zu drehen? Heiko sagt heute: „Für mich war das völliges Neuland, so etwas wie eine Ausbildung für Köche in Kitas gibt es nicht.“ Er googelte, fand schließlich die Sarah Wiener Stiftung, eine Initiative für praktische Ernährungsbildung von Kita- und Grundschulkindern.
Kinder sind keine rationalen Esser – so bringt Heiko auf den Punkt, was er an den Seminartagen gelernt hat, die ihn zum „Genussbotschafter“ machten. Das ist gesund, das solltest du essen? „Die Motivation muss aus einer anderen Richtung kommen“, weiß Sozialpädagogin Lisa, die die Fortbildung kurz darauf ebenfalls besucht hat. Das hat aber eine tolle Farbe! Und wie das knackt beim Schneiden … und dann auch im Mund …
„Man darf sich das jetzt nicht so vorstellen, als würden große Teile der Mahlzeiten von den Kindern selbst zubereitet“, stellt Lisa klar. „Wir wählen vielmehr täglich eine Komponente aus und bereiten die im kleinen Rahmen und nur für die Gruppe zu.“ Heute etwa soll es zu den Klößen Bayrisch Kraut mit Tofu und eine vegane Sauce geben – in der Werkstatt aber werden nur die Klöße Thema sein.
Nur? So ein Kloß ist was ziemlich Anspruchsvolles, stellen die Kinder fest. „Warum steht da Mehl?“, fragt Emmi. „Das ist Kartoffelstärke“, erklärt Lisa. „Macht die stark?“, will der vierjährige Hannes wissen. Die Pädagogin überlegt. „Ja, vielleicht kann man das tatsächlich so sagen. Kartoffeln enthalten viel Kohlenhydrate. Die geben euch Kraft.“ Und die braucht man hier auch. Das Schälen der Knollen, die zwecks Zeitersparnis vorab vom Profi gekocht wurden, geht ja noch. Aber das mit der Presse wird für die Kinder eine echte Herausforderung.
„Ich kann das“, sagt Hannes und krempelt die Ärmel hoch. Rein mit der Knolle ins metallene Gerät, Muskelkraft Marsch. „Boah, das sieht ja wie Würmer aus, was da unten rauskommt“, staunt Emmi. „Oder wie Spaghetti-Eis“, findet Lisa. Spätestens jetzt ist das Interesse so groß, dass jeder aus der Gruppe mal drücken will, und bei den Jungs beginnt sich fast eine Art Wettkampfstimmung breitzumachen.
Die Mädchen versuchen sich derweil mit Raspeln. „Dafür nehmen wir die rohen Kartoffeln“, lernen sie. Warum das? Gut, dass just in dem Moment der Koch persönlich zur Tür reinkommt: „Die Knödel brauchen Struktur, deswegen.“ Brauchen was? Heiko überlegt, wie man das erklären könnte: „Wenn wir nur gekochte Kartoffeln nehmen würden, wäre der Kloß weich, wie Kartoffelbrei. Das wollen wir nicht.“ Nein, auf keinen Fall. Also weiter reiben, weiter pressen, für eine gute Mischung, die die zweijährige Paula voller Inbrunst in einer Schüssel entstehen lässt. Weiche und knackige „Würmer“ plus die Kartoffelstärke, die Yu Yang, 5, löffelweise dazugibt, das macht die Masse schön geschmeidig. „Die Stärke sieht aus wie Mehl, fühlt sich aber ganz anders an“, stellt Joana fest. „Ja, so weich“, findet auch Fritzi, 3. Emmi hat derweil etwas anderes entdeckt: „Schaut mal, die Schüssel, in der die rohen Kartoffeln drin waren …“
„Wie viele Klöße machen wir?“ fragt Lisa, „Wer will einen, wer will zwei?“ „Zwei“ – die achtstimmige Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen. Klöße schmecken nicht, Klöße sind bäh? Zumindest für den Moment scheint das hier kein Thema mehr zu sein.
Kinder müssen Essen lernen, so wie Laufen, Sprechen oder Fahrradfahren, erfahren die Teilnehmenden der „Ich kann kochen“-Fortbildungen. Für Lisa der wohl größte Überraschungsmoment: Säuglinge haben viel mehr Geschmacksknospen als Erwachsene. „Wie viele der Knospen im Laufe des späteren Lebens zum Einsatz kommen, hängt von der jeweiligen Erfahrung ab. Wenn ein Kind sagt: Ich mag das nicht, dann heißt das nämlich in Wirklichkeit oft: Ich trau mich nicht.“
Heiko erntet mittlerweile oft erstaunte Blicke von Kollegen, wenn er berichtet, was in seiner Kita so alles auf dem Speiseplan steht. Grünkern-Zitronen-Smoothies. Austernpilz-Tartar. Aufläufe aus Ebly-Getreide, einer regionalen und damit klimafreundlichen Alternative zu Reis. „Und die essen das, wirklich?“, fragen die Kollegen, um dann gern eine ausführliche Antwort zu erhalten: Es macht einen Unterschied, ob man bei diesem ersten Überraschungsmoment bleibt, indem ein Champignon als merkwürdig weich wahrgenommen wird. Oder ob man lustvoll weiter forscht. Nach dem Motto: Stimmt, das schmeckt ein bisschen gummiartig. Wer will auch mal auf Gummi beißen?
„Mit so was hat man die Kinder dann meist schon“, schmunzelt Lisa, die es traurig findet, wenn in der Kinderküche Nudeln mit Tomatensoße die Hauptrolle spielen. „Oder Fischstäbchen oder Chicken Nuggets“, erinnert sich Kollege Heiko, der bis vor zwei Jahren genau dieses Programm abgespult hat. „Man macht halt, was man kennt, redet sich raus: Mehr sei aus Kostengründen nicht drin.“
Inzwischen wissen Koch und Kita-Leitung es besser: Mehr geht sehr wohl, wenn man ein bisschen kreativ ist. Dass in dem FRÖBEL-Kindergarten inzwischen komplett fleischlos gegessen wird, bringt enorme Einsparungen. Und auch der Schwerpunkt auf regionaler und saisonaler Kost schont das Budget. Hafermilch selbst machen? Kein Hexenwerk.
Und dann ist der Moment gekommen: An die 20 kugelrunde Knödel kommen in einen Topf mit sprudelnd kochendem Salzwasser. Jetzt heißt es warten, zehn Minuten etwa. Erst wenn ein Kloß aufsteigt, ist er gar. Johanna, Emmi und Yuyang nutzen die Zeit für wichtige Vorbereitungen: Teller müssen auf den Tisch, Stoffservietten und Gläser. Gläser? „Ja, klar“, sagt Lisa, die Plastikbecher stillos findet und den Kindern im Rahmen definierter Regeln bestimmte Dinge ganz bewusst zutraut. Was mache ich, wenn doch mal was zu Bruch geht? Den Schritt zur Seite haben die Kinder hier genauso verinnerlicht wie das Ablegen nicht genutzter Messer auf dem „Messerparkplatz“ während des Kochvorgangs.
Als schließlich alle bei Tisch sitzen, wird zugegriffen, ausnahmslos. Gleichzeitig ermuntert Lisa die Kinder immer wieder, innezuhalten und nachzuspüren: „Riecht ihr das auch, den Duft der Butter?“ „Wie fühlt sich das bei euch an, wenn ihr die Krautstückchen zwischen den Zähnen habt?“ Fast wie in einem Gourmetlokal: Eindrücke tauschen, den Genuss zelebrieren.
„Mein Beruf ist jetzt wieder das, was er sein soll: leidenschaftlich betriebenes Handwerk“, sagt Heiko Mezger. Und was sagen die Kinder? Für Emmi und Joana jedenfalls ist klar: Knödel sind ein neues Lieblingsessen, die kann es künftig ruhig öfter geben. Auch zu Hause findet Emmi. Die Voraussetzungen für Letzteres dürften bald gegeben sein – alle 14 Tage verschickt die Kita einen Newsletter, der die Eltern über Neuigkeiten aus dem pädagogischen Alltag und der Küche informiert. Lieblingsrezepte inklusive.
ICH KANN KOCHEN
So heißt eine Initiative für praktische Ernährungsbildung von Kita- und Schulkindern – initiiert von der Sarah Wiener Stiftung und der Barmer Krankenkasse. Die Initiative qualifiziert seit 2015 Kita- und Schul- Personal im Rahmen einer kostenfreien, im Moment online abgehaltenen Fortbildung als „Genussbotschafter:innen“. Mehr Infos: ichkannkochen.de & sw-stiftung.de
UND WAS ESST IHR SO?
Für die „Ernährungsstudie EsKiMo II“ des Robert Koch- Instituts wurden ca. 2600 Kinder und Jugendliche von 6 bis 17 Jahren befragt. Ergebnis: Die meisten Heranwachsenden essen zu wenig Obst, Gemüse und pflanzliche Lebensmittel mit einem hohen Gehalt an komplexen Kohlenhydraten wie etwa Vollkornbrot und Kartoffeln. Der Konsum von Fleisch, Wurstwaren und Süßigkeiten ist deutlich zu hoch.
Gastautorin
Elisabeth Hussendörfer ist freie Journalistin, hat Sozialpädagogik studiert und in verschiedenen sozialen Einrichtungen gearbeitet. Sie schreibt seit mehr als 20 Jahren im Bereich Soziales, Familie, Psychologie, Gesundheit, Medizin und Reise für verschiedene Zeitungen und Magazine. https://www.hussendoerfer.com