Schreiben, Lesen, Listen – Geteilte Schriftkultur in der Kita
Ein Beitrag von Tobias Kügler
Wer den FRÖBEL-Kindergarten Kinderland in Neu Fahrland zum ersten Mal besucht, wundert sich manchmal. Die Besucher*innen werden meist von Kindern umringt, die Listen führen, Namen aufschreiben und Häkchen setzen.
Die Kinder lieben Anwesenheitslisten. Aus praktischen Gründen wurden diese Listen schon vor einigen Jahren in unserer Kita eingeführt und eröffneten damit den Kindern eher zufällig und ungeplant einen spannenden Zugang zum Thema Schrift.
Mehr als nur eine Liste
Wozu Anwesenheitslisten im Kindergarten gebraucht werden, wissen die Kinder ziemlich genau: „Um die Kinder einzutragen. In den Kästchen. Da stehen die Namen“, sagt Karl (5;3). Lucy (4;8) zeigt auf die Aufteilung unserer vierzig Kinder in zwei Spalten: „Seeräuber und Waldräuber stehen da“ und Lenya (5;7) erklärt, „dass man weiß, wann die Kinder kommen und abgeholt werden.“ Luisa (6;1) ergänzt: „Zum Beispiel, wenn ich mit Ida mitgehe, muss das auf der Liste stehen“. Auch die Namen der pädagogischen Fachkräfte stehen manchmal auf so einer Liste und dann wird kontrolliert, ob sie auch da sind.
Erste Literacyerfahrungen
Oft wollen Kinder auf dem Klemmbrett nachsehen, wo ihr Name steht. Besonders beim Abholen helfen sie gern, andere Kinder auszustreichen oder die Zahlen für die Uhrzeit einzutragen. Sie sind stolz darauf, wenn sie lesen können, wer über und unter ihnen aufgelistet ist, wo der beste Freund/die beste Freundin steht oder wenn sie herausfinden, in welchen Namen die gleichen Buchstaben vorkommen. Am liebsten nehmen sie die Liste für eine Weile in Besitz, denn es macht weniger Spaß, wenn man immer fragen muss. Vielleicht reagieren pädagogische Fachkräfte instinktiv nach der Devise „das gebe ich nicht aus der Hand“ – es lohnt sich aber, innezuhalten und nach den Bildungspotenzialen in solchen alltäglichen Situationen zu fragen! Sich Zeit dafür zu nehmen, unsere praktische Schreibkultur mit Kindern zu teilen!
© FRÖBEL e.V.
In eine andere Rolle schlüpfen
Diese Utensilien faszinieren Kinder zudem, weil wir als Aufsichtspersonen damit hantieren. Sie nehmen diese (Macht-)Position sensibel wahr und lieben es, die Rollen zu tauschen. So sagte Lucy einmal: „Wenn ich die Liste habe, bin ich du, und du bist Lucy“. Weil unser Material auch unter diesem Aspekt so begehrt ist, haben wir für alle einen großen Stapel Listen ausgedruckt (nur mit Vornamen) und mit Karton und Wäscheklammer versehen. Einige Kinder haben von zu Hause Klemmbretter mitgebracht und auf diesen sammelt sich manchmal ein ganzer Wust Papier, bedeckt mit Zeichen, Symbolen, Ziffern, Buchstaben und sonstigen Bearbeitungsspuren. Sie treffen sich und gehen ihre Papiere zusammen durch. Hin und wieder stellen sie fest, dass ein Name fehlt und sie wollen wissen, wie man den schreibt oder sie bitten das entsprechende Kind, sich selbst einzutragen.
Listenvielfalt
Die Dokumentation unserer pädagogischen Arbeit zeigt, dass unglaublich viele kreative Listen-Schreib-Werke entstehen. Neben den gedruckten und weiter bearbeiteten Listen erstellen die Kinder akribisch und mit großer Ausdauer Namenssammlungen. Es gibt z. B. Reihungen des eigenen Namens, Zettel-Listen, Freundschaftslisten und Dokumente von Zugehörigkeit und Verbundenheit. Manche Listen werden auch zu Hause mit den Namen von Familienmitgliedern und Freunden und Freundinnen erweitert.
© FRÖBEL e.V. © FRÖBEL e.V.
Auf dem Weg zur Schriftsprache
Das Interesse am Listen-Schreiben ist eine Facette der vielfältigen Zeichen- und Schreibprozesse vor der Schule. Es geht dabei nicht darum, dass jeder Buchstabe oder Name richtig geschrieben wird. Uns ist wichtig, dass Kinder einen freien Zugang zu einer reichen Auswahl an Zeichen- und Schreibmaterialien haben und vielfältige Erfahrungen mit Schrift sammeln können, dass sie Zeit und Freiräume nutzen können, um selbst tätig zu werden. Wir pädagogischen Fachkräfte geben dann Hilfestellungen, Resonanz oder spielen einfach mit. Unsere Dokumentation zeigt übrigens auch, dass durch die Beschäftigung mit den Listen das Lesen und das Hantieren mit Zeichen in Bewegung gesetzt wird. Denn eine Liste kann jede*r ganz einfach mitnehmen und überall weiterführen – draußen wie drinnen, ohne Tisch, Unterlage oder Batterie!
Verweise
Die beste Art, die frühen Buchstaben-Zeichen von Kindern und deren kulturelle Energie wertschätzend und ästhetisch ansprechend zu dokumentieren, findet sich mit vielen Fotos in dem Katalog:
Reggio Children (2012): The Enchantment of Writing. In: The Wonder of Learning. The Hundred Languages of Children, Reggio Emilia, S. 98-118.
Gastautor
Tobias Kügler, M.A. studierte Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft sowie Philosophie und ist Erzieher im FRÖBEL-Kindergarten Kinderland in Neu Fahrland. Besonders inspirierend sind für ihn Reggio-Perspektiven auf die Kreativität, das Lernen und die vielfältigen Potenziale aller Kinder.