Sind Märchen noch aktuell?
Ein Beitrag von Ulrike Weber
Es war einmal … War es? Oder ist es noch? Es stellt sich die Frage nach der Aktualität von Märchen, haftet ihnen doch zuweilen ein durchaus verstaubtes Image an.
Da denkt man an das dicke Märchenbuch mit Goldschnitt, das zum Vorlesen bedächtig aus dem Schrank geholt wird und dessen Inhalte mit der heutigen Lebenswelt von Kindern doch vermeintlich nichts mehr zu tun haben. Doch ist das wirklich so? Mitnichten! Märchen sind und bleiben aktuelle Klassiker.
Kinder lieben Märchen
Die Märchengeschichte ist eine Erfolgsgeschichte: Von Aschenputtel bis Rumpelstilzchen, von Ali Baba bis Väterchen Frost – Märchen gehören zum literarischen und erzählerischen Diskurs unterschiedlicher Kulturen. In adaptierter Form treffen wir sie in den verschiedensten Medien wieder: Von moderner fantastischer Kinderliteratur bis hin zum Animationsfilm. Was macht also den Erfolg und die Beliebtheit dieses Genres aus? Es gibt zahlreiche Gründe: Ihre Helden faszinieren Kinder, ihre klaren Botschaften lassen sich auf die kindlichen Lebenswelten übertragen und ihre Magie zieht Kinder in ihren Bann.
Märchen bieten Orientierung
In den allermeisten Märchen sind die Rollen zwischen Gut und Böse klar verteilt. Und am Ende siegt das Gute, während das Böse unterliegt. Diese drastische und klar strukturierte Aufteilung hilft Kindern, eigene Gefühle zu ordnen und innere Konflikte zu lösen. Böse Feen, polternde Zwerge und rachsüchtige Hexen fungieren als Projektionsfläche für eigene Ängste. Durch den Sieg des Guten über das Böse im Märchen wird Kindern eine Brücke gebaut, eigene Schrecken zu überwinden, die sie im Kinderalltag begleiten – z. B. die Angst vor dem Verschwinden der Eltern oder vor fremden Bedrohungen. Auch die Brutalität, die manchen der Geschichten innewohnt, können die meisten Kinder dabei erstaunlich gut abstrahieren. Dabei gilt: Man muss beim Vorlesen und Erzählen von Märchen immer individuell auf die Kinder eingehen, Fragen klären und im Dialog bleiben. Wenn man merkt, dass ein Kind Angst bekommt oder von der Geschichte überfordert ist, ist es unabdingbar, dass der Erwachsene behutsam darauf eingeht.
Märchen sind magisch
Im Alter von etwa zwei bis sechs Jahren ist das Denken der Kinder noch von magischen Ideen beeinflusst. In dieser Phase haben Fantasie und Realität den gleichen Stellenwert. Daher nehmen Kinder für Alltagsphänomene häufig auch übernatürliche Erklärungen an. Zudem unterscheiden sie in der Phase des magischen Denkens häufig noch nicht zwischen Lebewesen und Dingen. So schimpfen sie z. B. mit dem Tischbein, wenn sie sich daran stoßen oder glauben, eine Wolke weint, wenn es regnet. Die Vorstellung einer unbekannten Erlebniswelt voller Zauber und Magie fasziniert Kinder in dieser Zeit besonders – ebenso wie deren Bewohner: Hexen, Zauberer, Zwerge und Elfen.
Märchen machen Mut
Gerade für die Jüngsten bieten Märchen jede Menge Identifikationspotenzial. Denn oftmals stehen die Kleinen und Schwachen im Mittelpunkt und sind zum Schluss die wahren Gewinner. Auf diese Weise werden zentrale Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung transportiert: Selbstwertgefühl, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und der Glaube an Unterstützung und Gemeinschaft. Denn Aschenputtel muss die Linsen nicht allein aus der Asche sortieren, sondern die Täubchen eilen ihr zu Hilfe. Und es ist eben nicht das größte, sondern das kleinste Geißlein, das seine Geschwister mithilfe der Mutter aus dem Bauch des Wolfes rettet! Auch schon für kleine Kinder sind das starke Bilder, die ihnen vermitteln: Du schaffst das! Und es gibt jemanden, der dir hilft!
© FRÖBEL e.V. Foto: Franziska Werner
Märchen fördern Sprache
„Knusper, knusper, Knäuschen, wer knuspert an meinem Häuschen?“, „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?“ oder „Sesam öffne dich“ – formelhafte Wiederholungen, Reime und eine ausschmückende Wortwahl sind typisch für Märchen. Damit eignen sie sich hervorragend zur Literacyförderung: Ihre bildhaften Ausdrücke vermitteln Kindern einen Zugang zu Sprache und deren Möglichkeiten, die charakteristischen Reime und Wiederholungen sprechen das phonologische Bewusstsein der Kinder an und wecken die Freude am Sprechen und an der kreativen Auseinandersetzung mit Sprache.
Und die Moral von der Geschicht‘? Wer Märchen vorliest, irrt damit nicht!
Märchen vorzulesen und zu erzählen bietet für Kinder und Erwachsene eine wunderbare Möglichkeit, gemeinsam in fantastische Welten einzutauchen und sich mit den Botschaften der Märchen auf verschiedenen Ebenen auseinanderzusetzen. Je nach Alter der Kinder gibt es zahlreiche Buch- und Medienvarianten, die die Märchenstoffe aufbereiten: Mit ans Vorlesealter angepassten Texten, die teilweise gekürzt sind, ohne das Wesentliche zu verändern, mit bunten Bildern, klassisch als Buch, als Erzählkarten fürs Kamishibai-Erzähltheater oder als App.
Doch abgesehen vom „Was“ spielt auch das „Wie“ eine tragende Rolle. Denn Kinder lieben die Atmosphäre des Vorlesens und Erzählens an sich. Die Ruhe, die Nähe, die gemeinsame Zeit und die dazugehörigen Gespräche schaffen eine starke Bindung und bleiben oft ein Leben lang in Erinnerung.
Gastautorin
Ulrike Weber studierte Literaturwissenschaft, Germanistik und Buchwissenschaft und leitet den Bereich Leseempfehlungen und Ehrenamt bei der Stiftung Lesen. Ihre Schwerpunktthemen sind Vorlesen, Kinder- und Jugendliterliteratur und Leseförderpraxis.