Bonbons im Sarg?
Ein Beitrag von Sylvia Vogel
Können Dreijährige schon trauern? Wie spricht man mit der Kita-Gruppe über Sterben und Tod? Welche Abschiedsrituale sind geeignet?
Kinder können dem Tod überall begegnen: im Märchen, in Liedern, auf der Straße – und manchmal in der Kita. Dann stehen die Fachkräfte vor der Aufgabe, mit ihren Kindern über Sterben, Tod und Trauer zu reden, weil eines der Kinder aus der Gruppe – vielleicht sehr plötzlich – verstorben ist. Trauer, Schock, Ohnmacht, Angst: Pädagogische Fachkräfte finden oft keine Worte für das Unfassbare und suchen Rat. Sie sind nicht nur mit ihren eigenen Gefühlen konfrontiert, sondern oft auch mit der Sorge der Familien, dass ihre Kinder eine solch einschneidende Erfahrung in einem viel zu frühen Alter machen müssen.
Eigene Ängste und Erfahrungen reflektieren ist wichtig
Mit den Fachkräften zunächst über eigene Ängste und Erfahrungen zu sprechen, kann Blockaden lösen, denn oft sind die Erlebnisse mit Todesfällen in der eigenen Familie eher negativ. Unsere eigene Haltung prägt jedoch unseren Umgang mit den Kindern. Daher ist es sinnvoll, die Erfahrungen zu betrachten und gemeinsam zu reflektieren. Wer liebevoll mit eigenen Erinnerungen an Tod und Trauer umgeht, traut sich auch zu mit den Kindern über deren Ängste und Nöte zu sprechen.
Kinder haben einen anderen Umgang mit dem Thema Tod als Erwachsene
Kinder selbst gehen noch unbefangen mit dem Thema um – viele im Kita-Alter haben bereits erste Erfahrungen mit dem Tod gemacht. Vielleicht ist der Opa schon gestorben oder das geliebte Haustier.
Für die Erwachsenen macht es einen großen Unterschied, ob ein Mensch oder „nur“ ein Haustier gestorben ist. Kinder empfinden das noch anders – der Hund war vielleicht immer zum Spielen und Kuscheln verfügbar. Während die Großeltern möglicherweise weiter weg wohnen oder aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr so beweglich waren. So fällt die kindliche Bewertung, welcher Verlust schwerer wiegt, eventuell zugunsten des Hundes aus.
Die meisten Kinder erzählen freimütig von ihren Erlebnissen und Erfahrungen: „Da ist der Krankenwagen mit Blaulicht gekommen und dann kam meine Mama ohne Baby wieder nach Hause und hat geweint.“
Was kann man tun, wenn ein Kind erzählt, dass es jetzt doch kein Geschwisterchen bekommen wird? Oder wenn die Kita-Leitung informiert wird, dass ein Kind bei einem schweren Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist?
Rituale helfen
Kinder brauchen und lieben Rituale, die ihnen helfen, die Welt zu
begreifen. Es ist schön gemeinsam einen Kreis zu bilden, mit einer
Lichterschale in der Mitte, in der jedes Kind ein Teelicht entzünden darf.
Während sie von den pädagogischen Fachkräften erfahren, dass ein Kind aus ihrer
Gruppe gestorben ist, ist ihr Blick auf die hellen Kerzen gerichtet, die einen
Haltepunkt geben.
Die Fachkräfte können für die Familie und für das verstorbene Kind im
Morgenkreis gute Wünsche „für den Ort, an dem es jetzt ist“, formulieren. Das
regt Kinder an, direkt zu fragen: „Wo ist es denn jetzt, und wie ist es da?“
Empfehlenswert ist es, die Fragen an die Kinder zurückzugeben: „Was
meinst du denn?“ Die meisten Kinder haben Vorstellungen von Sternen,
Wolken, einem Regenbogen, dem Paradies oder dem Himmel. Nur selten sagt eines:
„Wenn man tot ist, kommt man in die Erde.“ Aber auch das kann von den
Fachkräften direkt aufgenommen werden. Kinder, die bereits auf einer Beerdigung
waren, erzählen davon ganz unbefangen.
Spielerisch Tod und Beerdigung begreifbar machen
Es ist keine Seltenheit, dass die Kita-Gruppe in der Folge immer wieder Begräbnis und Tot-Sein spielt. Mit allem Drum und Dran – schwarze Tücher, Blumenkränze und eine Turnmatte als Sarg. Oft werden Bonbons, Obst und Stofftiere dazu gelegt. Für die Kinder ein ganz normales Rollenspiel, das ihnen ermöglicht, Unbekanntes zu be-greifen. Es sind die Erwachsenen, die das Thema eher tabuisieren.
Gefragt wird auch, ob das verstorbene Kind im Sarg seine Spielsachen oder die Kuscheldecke dabei hat. Weil sich Kinder meist vor Kälte und Dunkelheit fürchten, ist es hilfreich, ihnen zu vermitteln, dass das verstorbene Kind sich möglicherweise an einem Ort befindet, an dem es warm und hell ist und dass es dort nicht alleine ist. Diese drei Kriterien sind für Kinder sehr wichtig und müssen auch nicht näher definiert werden. Damit können sie umgehen – es vermittelt ihnen selbst ein Gefühl der Geborgenheit und gibt Perspektive.
Es ist günstig eigene Überzeugungen gar nicht anzusprechen, um Kinder nicht in Loyalitätskonflikte zu bringen. Lässt man vielmehr die Kinder erzählen, was sie sich denn vorstellen, erfahren die Fachkräfte automatisch einiges von dem, was zu Hause erzählt wird. Wenn die familiären Überzeugungen nicht bewertet werden, sondern verdeutlicht wird, dass die Glaubensrichtungen sich in verschiedenen Begräbnisritualen zeigen, lernen Kinder, dass jede Familie einen eigenen Umgang mit Verstorbenen pflegt und dass das in Ordnung ist. So ist es auch möglich, in interkulturellen Kitas das „heikle“ Thema der Bestattungsform anzusprechen und zu vermitteln, dass alle Formen gleichwertig nebeneinander stehen dürfen.
Kindliche Trauer ist oft sprunghaft
Der tägliche Umgang mit der Trauer ist für Kinder im Kita-Alter wie „Pfützenspringen“. Sie sind – anders als Erwachsene – nicht konstant damit befasst, zu trauern. Sie gehen schnell in die traurigen Gefühle hinein und wieder heraus. Scheint das Kind eben noch auf unabsehbare Zeit untröstlich, so ist es kurz danach an Schokoladeneis interessiert oder spielt heiter mit den anderen Kindern. Dieses Phänomen schützt sie vor psychischer Überforderung. Trotz dieser Sprunghaftigkeit sollte das Kind jederzeit in seinem Schmerz ernst genommen werden.
Umso hilfreicher in einer Krisensituation ist daher die Kontinuität, die das Kind in der Kita erlebt. Im Gespräch mit der Fachkraft benötigt das Kind keine schnellen Lösungen, die den Schmerz beseitigen – das kann ohnehin nicht gelingen. Vielmehr geht es darum zu vermitteln, dass etwas Trauriges geschehen ist und sich deshalb alles anders anfühlt als gewohnt.
Eine klare Sprache finden
Dabei gilt es euphemistische Umschreibungen zu vermeiden: „Euer Spielgefährte ist von uns gegangen.“ In der Kita-Gruppe sind Verwirrung und Ratlosigkeit die Folge. Wohin ist er gegangen? Warum hat er mich nicht mitgenommen? Wann kommt er denn zurück?
Vorsicht geboten ist auch bei Sätzen wie „Sie ist ganz friedlich eingeschlafen.“ Das weckt bei Kindern häufig die Angst vor dem Einschlafen – aus Sorge, sie selbst oder ihre Angehörigen wachen dann ebenfalls nicht mehr auf.
Gemeinsames Erinnern
Unterstützend dagegen ist es, wenn die Fachkräfte den Kindern in ihrem Kita-Alltag vorleben, dass die Erinnerung an einen Menschen hilfreich bei der Trauerbewältigung ist. Durch das Erzählen gemeinsamer Erlebnisse und Geschichten behält das verstorbene Kind einen Platz in der Gruppe und durch gemeinsames Handeln – zum Beispiel beim gemeinsamen Pflanzen von Vergissmeinnicht – wird es auf natürliche Weise in das Gruppengeschehen integriert. Auch ein gemeinsam beklebter Schuhkarton, in den die Kinder schöne oder lustige Kleinigkeiten für das verstorbene Kind legen können, fördert die Erinnerung: Kastanien, ein hübscher Stein, eine Comic-Figur …
Fachkräfte haben manchmal die Befürchtung, unprofessionell zu wirken, wenn sie im Beisein der Kinder weinen. Die Sorge ist unnötig, denn die Kinder erfahren so etwas sehr Wichtiges in ihrem Leben: Authentizität und Offenheit für ihre eigenen Gefühle. Trotz ihrer Trauer können Erzieher*innen handlungsfähig und kompetent bleiben, indem sie ihre Gefühle benennen. So kommen sie aus der Emotion zur Artikulation und wechseln die Perspektive: weg von der eigenen Person, hin zum Kind und zu dessen Bedürfnissen.
Zur Entwicklung der kindlichen Todesvorstellung
Babys bis zu einem Jahr erfassen Sterben und Tod noch gar nicht, nehmen aber bereits kleinste Veränderungen in ihrem gewohnten Umfeld wahr, z. B. die abgesenkte Körpertemperatur der trauernden Mutter, ihren veränderten Muskeltonus oder die ungewohnt klingende Stimme. Das Baby kann auf solche Störungen mit anhaltendem Weinen reagieren.
Kleinkinder, die die Uhr noch nicht kennen, haben keinen Zeitbegriff und dementsprechend keine Vorstellung von der Endgültigkeit des Todes. Für sie ist dies noch ein vorübergehender Zustand. So haben sie auch keine Angst vor dem eigenen Tod oder dem ihrer Angehörigen. Den Verlust von Bezugspersonen oder Haustieren empfinden sie jedoch als sehr schmerzhaft.
Erst ab dem Schulalter erfassen und erforschen Kinder das Phänomen des Todes genauer.
Ein gereiftes Todeskonzept wie bei den Erwachsenen ist erst im Alter von 9-12 Jahren ausgebildet.
Gastautorin
Diplom-Pädagogin Sylvia Vogel berät Familien und Fachkräfte zum Thema Sterben, Tod und Trauer. Sie hat in der Björn Schulz Stiftung Kindertrauergruppen aufgebaut, in denen Kinder (ab 6 Jahren) begleitet werden, die einen nahestehenden Menschen – Geschwisterkind, Eltern, Großeltern oder Freund – verloren haben. Aktuell berät sie Familien und Fachkräfte zum Thema Sterben, Trauern und Erinnern. Die Björn Schulz Stiftung begleitet Kinder und Jugendliche und junge Erwachsene, die lebensverkürzend erkrankt sind. Auch wenn viele von ihnen lange Jahre mit ihrer Diagnose leben können, versterben manche Kinder bereits im Kita-Alter.