So kann das Potential verschiedener kultureller und sprachlicher Hintergründe in der Kindertageseinrichtung genutzt werden
Ein Beitrag von Elke Schlösser und der academy – intercultural and specialized communications e.V.
Dieser Beitrag ist Teil des Webinars „Vielfalt an Kitas und Schulen: Empfehlungen für die Praxis“, der academy – intercultural an specialized communications e.V. mit Sitz in Chemnitz. Im Rahmen von zwei Online-Seminaren stellte Elke Schlösser theoretische und praktische Impulse zur interkulturellen Kooperation mit Familien vor. Den ganzen Vortrag können Sie hier downloaden:
Ein respektvoller Umgang erwächst letztlich aus den (bisherigen, siehe Download, Anmerkung der Verfasserin) Vorüberlegungen zur Haltung, gespeist aus den eigenen Werten. Respektvoller Umgang ist eine zwischenmenschliche Kompetenz. Er folgt unmittelbar der Forderung unseres Grundgesetzes, alle Menschen mit der ihnen zustehenden Würde zu behandeln. Dabei wird in Bezug auf das Recht, in seiner Würde geachtet zu werden, kein Mensch außenvor gelassen. Allen steht dieses Recht gleichermaßen zu. Außer Frage steht, dass wir Menschen dazu über gewisse Ich-Kompetenzen und soziale Kompetenzen verfügen sollten, die wir ein Leben lang weiterentwickeln.
Wenn es um den respektvollen Umgang mit unterschiedlichen Kulturen und Religionen geht, spricht man heute gerne von „Interkultureller Handlungskompetenz“:
Interkulturelle Handlungskompetenz
Kompetenz ist ein großes Wort, es klingt sehr umfassend. Es ist leichter, sich diesem Begriff zu nähern, wenn wir uns vorstellen, dass Kompetenzen die Summe vieler einzelner Fähigkeiten sind.
So besteht auch die Interkulturelle Handlungskompetenz aus verschiedenen einzelnen Fähigkeiten. Meines Erachtens sind dies folgende Fähigkeiten:
- die interkulturelle Sensibilität / Feinfühligkeit, verbunden mit dem Einfühlungsvermögen in die Situation von migrantischen Menschen und denen mit Fluchterfahrung
- die differenzierte Selbstreflexion, vor allem in Bezug auf den Umgang mit mir fremden Sozialisationen sowie kulturellen und religiösen Identitäten
- die Einsicht in die Notwendigkeit der permanenten Stärkung der eigenen kommunikativen Kompetenzen, beispielsweise in Bezug auf Mimik, Gestik, Körpersprache, Sprachgebrauch, Mehrsprachigkeit, Entstehung und Lösung von Missverständnissen
- die differenzierte Haltung Konflikten gegenüber; es ist wichtig, sie als normal anzusehen, ihr Bereicherungspotential zu erkennen und sie nicht übermäßig als Stress zu empfinden sowie Strategien der Mediation zu kennen und umsetzen zu lernen
- die wachsenden Kenntnisse über unterschiedliche Herkunftsländer, Erziehungssysteme, rechtliche Situationen von Migrant*innen, Gründe für Migration und ein steigendes Interesse daran
- die Bereitschaft, sich beständig Kenntnisse der gesellschaftlichen und politischen Wandlungsprozesse im eigenen Land zu verschaffen
- das Erkennen-Können rassistischer und fremdenfeindlicher Motive und die eigenen Möglichkeiten, ihnen zu misstrauen sowie die Fähigkeit, individuelle Formen zu finden, ihnen entgegenzutreten
- die Fähigkeit, Andersartigkeit zumindest tolerieren / aushalten zu können und sie nicht als bedrohlich zu erleben
- die methodischen Kompetenzen zur Förderung der kindlichen Mehrsprachigkeit
- die methodischen Kompetenzen zur Zusammenarbeit mit zugewanderten Familien, wie Techniken der Erwachsenenbildungs- und Familienbildungsarbeit
Für die pädagogische Praxis ist es wichtig, diese Kompetenzanforderungen individuell und in den Organisationen / Bildungseinrichtungen gemeinsam anzunehmen und die entsprechenden Fähigkeiten kontinuierlich auszubauen. Die persönliche Motivation dazu ist der Schlüssel für die entsprechende Weiterentwicklung und zur Nutzung von Potentialen.
Potentiale erkennen und nutzen
Potentiale von Menschen zu nutzen verbinden wir heute mit dem Begriff des „ressourcenorientierten Arbeitens“. In meinen Fortbildungen nannten Pädagog*innen als von ihnen erkannte Potentiale von Familien:
- individuelle und biographische Ressourcen.
Sinnvolle Fragestellungen dazu: „Was ist typisch für die Persönlichkeit eines Vaters / einer Mutter / eines Familienmitgliedes?“ – „Was ist markant und wertvoll im individuellen Lebenslauf des jeweiligen Familienmitgliedes? - soziale und kommunikative Kompetenzen.
Fragestellungen dazu: „Über welche mitmenschlichen Kompetenzen verfügt das Familienmitglied?“ – „Über welche kommunikativen und sprachlichen Kompetenzen verfügt die Familie?“ - kulturelle, traditionelle und religiöse Kompetenzen.
Sinnvolle Fragestellungen dazu: „Mit welcher kulturellen Prägungen identifiziert sich die Familie?“ – „Welche traditionellen und religiösen Gepflogenheiten sind der Familie wichtig?“ – „Wie viel Verbindung besteht zur Kultur des Herkunftslandes?“ – „Wie verbunden fühlt sich die Familie mit anderen kulturellen Einflüssen, auch denen in Deutschland?“ - berufliche Kompetenzen und spezifisches Fachwissen.
Sinnvolle Fragestellung dazu: „Welches erworbene Wissen und welche beruflichen Fähigkeiten sind die Potentiale der Familie?“ - individuelle Hobbys und Interessen.
Sinnvolle Fragestellungen dazu: „Womit beschäftigt sich die Familien gerne in der Freizeit?“ – „Welche besonderen Fähigkeiten und Kompetenzen sind durch familiäre Hobbys und Freizeitbeschäftigungen erkennbar?“
Praxisbeispiele für die ressourcenorientierte Einbindung von Familien und die Nutzung ihrer Potentiale
Die Familien-Kind-Aktivität „Sprachecke“
In einer ungestörten Ecke der Kindertageseinrichtung steht ein Tisch umgeben von vier bis fünf Stühlen. Familienmitglieder werden gebeten sich zu überlegen, ob sie mit vier Kindern ca. 30 Minuten dort eine Aktivität durchführen wollen, bei der sie komplett in ihrer vom Deutschen abweichenden Familiensprache sprechen, ganz gleich, ob die mitspielenden Kinder diese Sprache sprechen oder nicht. Die Personen können wählen, wann und wie oft sie diese kleine ehrenamtliche Aktivität anbieten möchten.
Beispiele:
- ein Mutter spielte mit Kindern Memory auf Portugiesisch,
- ein türkischer Vater zeigte und erklärte den Kindern ein traditionelles Ney-Instrument und spielte für sie darauf,
- eine Schwäbisch sprechende Großmutter bereitete mit Kindern Apfelringe zum Trocknen vor,
- ein Spanisch sprechender Großvater erzählte Kindern anhand von Fotos von seiner Imkerei.
Selbst diejenigen Kinder, die die genutzte Sprache überhaupt nicht kannten, behaupteten, alles verstanden zu haben und hatten sichtlich Spaß an den Aktionen! Eine sensible Einführung in die Neugier auf Sprachen und den Wert von Mehrsprachigkeit!
© FRÖBEL e.V; Foto: Boris Breuer
Der thematische Informationsabend: „Wie profitiert mein Kind von interkultureller Bildung?“
An diesem Abend wird die sogenannte Wolkenmethode genutzt, die alle Beteiligten einbindet. Auf sieben Plakate, wahlweise mindestens 4 Plakate, höchstens sieben Plakate, ausgeschnitten in Wolkenform (was keine weitere Bedeutung hat, als ansprechender zu sein als langweilige Rechtecke), werden mittig pro Wolke charakteristische Aussagen zu den Grundsätzen interkultureller Bildung notiert.
Beispiel:
- Die Kindertageseinrichtung bereitet die Kinder auf ein Leben in der multikulturellen Gesellschaft vor.
- Kinder werden als Individuen wahrgenommen und haben ein Recht darauf, in ihrer sprachlichen, kulturellen und religiösen Identität gefördert zu werden.
- Interkulturelle Bildung ist keine besondere Einzelaktion. Sie findet alltäglich in der Kindertageseinrichtung statt.
- Wir orientieren uns an der tatsächlichen Lebenssituation aller Kinder und denken über ihre Herkunft nicht in Klischees.
- Wir achten die den Familien wichtigen kulturellen, traditionellen und religiösen Gepflogenheiten und geben Kindern und Familien Gelegenheit, den Alltag der Kindertageseinrichtung hiermit zu bereichern.
- Wir fördern mit Sprachrespekt die Erst- und Zweitsprache aller Kinder.
- Wir entwickeln Ideen für unsere Arbeit mit den Familien gemeinsam und freuen uns über interkulturelle Zusammenarbeit über alle Generationen hinweg.
Auf jeder Wolke, die alle durch den Turnraum oder Flur der Einrichtung ausgelegt werden, liegen ein grüner und ein roter dicker Filzstift. Nach der Begrüßung und Erläuterungen zum weiteren Verlauf des Abends werden Kleingruppen gebildet, die sich sprachlich verstehen. Mindestens eine Person ist solide deutsch- oder doppelsprachig. Die Kleingruppen gehen von Plakat zu Plakat und notieren in grüner Schrift, was sie nach Diskussion in der Kleingruppe zu dieser Aussage denken und in roter Schrift, welche Frage sie gegebenenfalls noch zu dieser Aussage haben.
Auf ein Gongzeichen hin wechseln die Kleingruppen nach 10 Minuten zum nächsten Plakat, bis alle Gruppen an jeder Wolke gewesen sind. Nach einer ca. 15-minütigen Pause mit einer kleinen Erfrischung finden sich alle in der Runde ein. Die Wolken sind an eine Wand gehängt und die Moderator*in des Abends gibt noch Auskünfte zu den in roter Schrift gestellten Fragen.
Die Wolkenmethode eignet sich für sehr viele Themen, zum Beispiel auch für „Ist mein Kind schulfähig?“ – „Kinder, Fernsehen und die neuen Medien“ – „Wut, Aggression Streit … was tun?“ – „Wie wichtig sind gesunde Ernährung und Bewegung für mein Kind?“ – „Förderung der Mehrsprachigkeit und Deutsch als Zusatzsprache“. Hierzu entwerfen Team und gegebenfalls mitgestaltende Eltern entsprechende Aussagen für die Wolken.
Der Vorteil dieser Vorgehensweise: Die Familien werden gleich zu Anfang mit ihrem Wissen und ihren Haltungen zu den Aussagen eingebunden und ernst genommen. Ebenso mit ihren Fragen, die dann zielgerichtet beantwortet werden können.
© FRÖBEL e.V; Foto: Bettina Straub
Das Erwachsenenbildungsangebot: „Allah ist ganz anders – mehr wissen über den Islam“.
Dieses Angebot passt in alle Einrichtungen, die Menschen ansprechen wollen, die im Sinne von Weltwissen ihre Kenntnisse der Religionen erweitern möchten.
Methodik:
Ein*e Moderator*in und ein islamkundiger Mensch gestalten den Abend gemeinsam.
Benötigt werden lediglich:
- zwei Stellwände
- Pinnnadeln
- pro teilnehmender Person (mindestens) zwei grüne und zwei gelbe Moderationskarten
Nach Begrüßung und Einführung werden die Teilnehmenden gebeten, jeweils eine einzelne Nennung pro Karte aufzuschreiben und:
- auf die grünen Moderationskarten zu notieren: „Das weiß ich schon über den Islam“
- auf die gelben Moderationskarten zu notieren: „Das möchte ich über den Islam noch wissen“
Sind die Notizen erfolgt, startet eine Person mit ihrer Vorstellung der Nennungen auf ihrer grünen Karte. Die Gesprächsleitung heftet die Karten an die entsprechend markierte Stellwand und die islamkundige Person gibt Auskunft dazu, ob das vermutete Wissen stimmig ist und zutrifft, oder ob die Auffassung eventuell nicht korrekt ist. Nicht richtige Auffassungen ergänzt die fachkundige Person durch korrektes Wissen, falsche Annahmen werden wieder abgenommen. Sind auf diese Weise alle grünen Karten bearbeitet, wendet man sich den gelben Karten zu und die Fragen werden sachkundig beantwortet.
Häufig gestellte Fragen an Informationsabenden in Kindertageseinrichtungen waren:
- Was bedeutet das Wort Islam?
- Wer war Mohammed?
- Was verbindet Juden, Christen und Muslime?
- Besteht bei muslimischen Familien Interesse der Berücksichtigung ihrer Feste in der Kita?
- Gibt es Unterschiede im religiösen Alltag je nach unterschiedlichen Ländern, wie Türkei, Marokko, Indonesien?
Kompetente Teilnehmende beteiligen sich gerne an der thematischen Bearbeitung und zeigen so ihre Ressourcen. Selbstverständlich ist dieselbe Methodik anzuwenden für die Beschäftigung mit anderen Weltreligionen. Muslimische Familien wünschten sich beispielsweise einen vergleichbaren Informationsabend zum Christentum. Die Chance der Beschäftigung mit den großen Weltreligionen besteht darin
- sich mit den jeweiligen Grundaussagen vertraut zu machen,
- Parallelitäten zu anderen Religionen wahrzunehmen,
- die Bedeutung spezifischer Festen zu verstehen,
- und ansatzweise ein Wissen und Gespür für die Glaubensausrichtung dieser Religion entwickeln zu können.
So nähert man sich dem Ziel eines wachsenden Religionsrespekts, einer Achtung gegenüber dem individuellen, religiösen Geworden-Sein und der uns fremden Religionen mit den Formen ihrer Ausübung in unserem Land. Ganz gleich, welche religiöse oder nicht-religiöse Position man selbst freiheitlich einnimmt.
Zum Weiterlesen
Schlösser, Elke: Wir verstehen uns gut – Spielerisch Deutsch lernen. Alltagsintegrierte Methoden zur Sprachförderung bei Kindern mit und ohne Migrationshintergrund. Ökotopia Verlag Aachen. 7. Auflage 2016
Schlösser, Elke: Zusammenarbeit mit Eltern – interkulturell. Informationen und Methoden zur Kooperation mit deutschen und zugewanderten Eltern in Kindergarten, Grundschule und Familienbildung. Ökotopia Verlag Aachen. 4. überarbeitete und aktualisierte Neuauflage 2017
Schlösser, Elke: So gelingt Zusammenarbeit mit Eltern – U3. Professionell im Kontakt in Startphase, Elterngesprächen, Elternabenden und Hospitationen. Ökotopia Verlag. Münster. 2014
Schlösser, Elke: Kinder gemeinsam stärken. Zusammenarbeit mit Eltern im Übergang ihrer Kinder vom Kindergarten in die Volksschule. Arbeiterkammer Feldkirch/ Vorarlberg/ Österreich 2017
Schlösser, Elke: Chancen frühkindlicher Literalität – Unsere Lieblingsgeschichten erzählt in zwei, drei, vier und mehr Sprachen. Einführung Dr. Timm Albers. SchauHoer Verlag. Pulheim. 2. Auflage 2019