Mit Kindern nach den Sternen greifen
Ein Beitrag von Anja von Maydell
„Was ist denn eine Sternstunde?“ fragte Momo.
„Nun, es gibt manchmal im Lauf der Welt besondere Augenblicke“, erklärte Meister Hora, „wo es sich ergibt, dass alle Dinge und Wesen, bis zu den fernsten Sternen hinauf, in ganz einmaliger Weise zusammenwirken, so dass etwas geschehen kann, was weder vorher noch nachher je möglich wäre. Leider verstehen die Menschen sich im allgemeinen nicht darauf, sie zu nützen, und so gehen die Sternstunden oft unbemerkt vorüber. Aber wenn es jemand gibt, der sie erkennt, dann geschehen große Dinge auf der Welt.“
Momo (Michael Ende)
*Sternstunden* ein fester Raum für Sprachbildung
Zu der Frage, wie Sprache im Alltag zu einem starken und nützlichen Handwerkszeug für die Kommunikation wird, hat im Prinzip jede*r von uns implizites Wissen und Erfahrungen im Lauf des Lebens gesammelt. Diese geben wichtige Hinweise darauf, welche Sprachvorbilder und Gesprächssituationen auch Kinder in der Sprachentwicklung benötigen, um ihre Sprache gut entwickeln und erproben zu können.
Vielleicht kennen Sie Situationen, in denen Sie sich zur virtuosen Sprecher*in aufschwingen und die Worte sich fast gegenseitig zu beflügeln scheinen – vielleicht beim geselligen Treffen mit guten Freunden, Familie oder anderen Menschen, die Ihnen nahestehen oder wohlgesonnen sind. Faktoren wie Wertschätzung, Empathie, interessiertes Zuhören auf Augenhöhe werden hier die Kommunikation beeinflussen. Auch Akzeptanz, Spaß, Mit-Freude, eine Offenheit für Themen, die Bereitschaft zur gemeinsam geteilten Aufmerksamkeit, Wohlwollen, gegenseitige Anerkennung und Authentizität, das Gefühl von Sicherheit, gegenseitigem Respekt, Selbstwirksamkeit, Anregung, ein Gefühl des über sich hinauswachsen usw. werden eine zentrale Rolle in den Gesprächen spielen.
Und vielleicht kennen Sie auch Gesprächssituationen aus ihrem Alltag, in denen Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse Sie fast zu erdrücken scheinen und Ihr Sprachzentrum bzw. der Weg dorthin verschüttet scheint – vielleicht in einer Prüfungssituation in Schule oder Beruf, einer Rechtfertigungssituation oder einem Verhör. In einem solchen Fall finden Gespräche meist nicht auf Augenhöhe, in einer verunsichernden, abhängigen, vielleicht sogar beängstigenden Atmosphäre statt. Die Aufmerksamkeit muss auf diese Unsicherheit, die gefühlte Bedrohung gelenkt werden, um die Beziehung zu prüfen und der Frage nachgegangen werden, wie man dieser unangenehmen Situation möglichst schnell wieder entkommt.
Gelingende Kommunikation mit Kindern, in der sie Bestätigung und Anregung für ihre Sprachentwicklung erhalten, hängt unter anderen von diesen so banalen wie zentralen Momenten ab: von der Abwesenheit von Angst und Verunsicherung ,der Anwesenheit von Ermutigung, einer guten Beziehung und einem Interesse am Thema.
Diese besonderen – für die Sprachentwicklung eines Kindes unabdingbaren – Gespräche möchte ich als *Sternstunden* bezeichnen.
Ausgehend von diesen für Sprachbildung grundlegenden Gedanken habe ich mit dem Team einer Berliner Kita das Moment der *Sternstunden* in ein Sprachbildungskonzept umgewandelt. Die Pädagog*innen hatten den Eindruck, dass der Alltag für die Kinder nicht genug Kommunikationssituationen mit erwachsenen Sprecher*innen bot, um sich in ihrer Sprache gut weiterzuentwickeln. Eine Beobachtungsphase des Alltags ergab, dass die Pädagog*innen am Ende des Tages zwar durchgängig gesprochen hatten, die meisten Redeanteile jedoch organisatorischer Art waren, wie „wascht euch die Hände, gleich gibt’s Essen; kannst du das bitte wegräumen; zieht euch an, wir wollen rausgehen…“. Dieses wichtige Momente geben den Kindern Sicherheit und Struktur im Kitaalltag, enthalten jedoch noch keine Gesprächssituationen im Sinne der oben beschriebenen *Sternstunden*.
So war die Überlegung und der Wunsch im Team, Räume und Zeiten für solche Gespräche zu etablieren und wir begannen, die *Sternstunden* im Alltag zu verankern.
Die Integration der Gespräche im Alltag schien zunächst schwierig und rief Unsicherheit hervor. Wir haben daher erst eine äußere Struktur geschaffen, die den Pädagog*innen und Kindern Ruhe, Zeit und einen gesicherten Raum für *Sternstunden*Gespräche ermöglichte:
Jede Pädagog*in hielt sich einmal täglich 30 Minuten Zeit frei für eine *Sternstunde*. In der Kita arbeiteten je zwei Pädagog*innen mit einer Gruppe von 20 Kindern, so dass täglich zwei *Sternstunden* stattfanden. Um diese Zeitfenster freizubekommen, war eine gute Organisation, verlässliche Absprachen und eine gute Portion Kreativität im Team gefragt, die nur erfolgreich war, da das ganze Team sich für diesen Weg entschieden hatte und hinter der Umsetzung stand. So eröffneten sich Zeitfenster beispielsweise früh am Morgen, die Leiterin sprang in der Gruppe ein, wenn nur eine Pädagog*in bei den Kindern war und sich sonst nicht aus der Gruppe herausziehen konnte oder wenn die Kinder draußen im Garten spielten usw.
Um den Kindern einen Überblick und eine Sicherheit zu geben, dass ihre *Sternstunde* auf jeden Fall stattfindet, wurde im Gruppenraum gut sichtbar eine Schnur angebracht, an der für jedes Kind eine Sternenkette hing. Die beiden Kinder, deren Ketten ganz vorne hingen, waren an dem Tag an der Reihe mit einer *Sternstunde*.
Wie funktioniert eine *Sternstunde*?
Alya ist heute an der Reihe mit einer *Sternstunde* – ihre Sternenkette hängt bereits gut sichtbar an der Gruppentür. Viele Kinder tragen am Tag ihrer *Sternstunde* die Kette den ganzen Tag. Durch die Gespräche über die *Sternstunden* haben sich die Kinder gegenseitig zur Gestaltung ihrer persönlichen *Sternstunde* inspiriert. Es gab auch immer wieder Zeiten, in der einer Idee besonders beliebt war; z.B. Besuche der hauseigenen Werkstatt, Spaziergang um den Block oder gemeinsame „Büroarbeit“ mit der Leiterin.
Alyas *Sternstunde* findet direkt nach dem Frühstück statt. Ihre Bezugserzieherin Dora hat sich eine halbe Stunde freigehalten. Alya entscheidet selbst, ob sie ihre Sternstunde mit Dora machen möchte und was in der halben Stunde passieren soll. Alya möchte eine Tierwelt bauen, aber nicht mit Dora, sondern mit Lena, die kann das nämlich besonders gut. Das ist kein Problem: Dora und Lena tauschen kurzerhand und Dora vertritt Lena in der Gruppe.
Die Selbstverständlichkeit, den Raum der *Sternstunde* überlegt zu füllen und für die eigenen Interessen und Vorlieben zu nutzen, hat sich langsam und Stück für Stück aufgebaut. In den ersten *Sternstunden* gab es sowohl bei der Pädagog*innen als auch bei den Kindern Unsicherheit über die neue Situation und die große Frage, was denn miteinander ein gutes Spiel wäre. Zu Beginn griffen die Kinder oft zu Tischspielen, weil ihnen diese vertraut waren. In Teambesprechungen setzten wir uns mit diesen Unsicherheiten auseinander. Auch gab es Fragen im Team nach Grenzen – wenn ich den Kindern Räume eröffne über das Gewohnte hinaus, werden sie dann nicht maßlos fordern und ich muss ständig eingrenzen, weil manche Dinge nicht möglich sind?
Die Erfahrung zeigte, dass die Kinder sich oft sensibel entlang der Unsicherheiten der Pädagog*innen orientierten und gut akzeptieren konnten, wenn bestimmte Dinge aufgrund bestimmter Gründe nicht gingen.
Am Ende der Sternstunde Alya marschiert stolz in die Gruppe zurück, hängt ihre Sternenkette ans Ende der Schnur und lädt ihre beiden besten Freundinnen ein, mit ihr weiterzuspielen mit der Tierwelt, die sie mit Lena aufgebaut hat.
© FRÖBEL e.V.
Dokumentation
Im Anschluss an Alyas *Sternstunde* macht Lena ein paar kurze Notizen in Alyas *Sternstunden*Ordner. Den *Sternstunden*Ordner für jedes Kind hat das Team als Beobachtungsinstrument eingeführt, in der die Idee der „Beobachtung als Beachtung“ im Vordergrund steht.
Die Dokumentation der *Sternstunden* hat sich dabei zur einer Form entwickelt, die heute häufig auch unter dem Begriff der „Lerngeschichten“ gefasst wird: eine wertschätzende Verschriftlichung der letzten halben Stunde, in denen die Interessen, Freuden und Aufmerksamkeiten des Kindes im Fokus stehen und evtl. 1-2 gesprochene Sätze des Kindes aus der Erinnerung, die kennzeichnend für die gemeinsame *Sternstunde* waren.
Teamentwicklung
Nach einer ersten Phase der vorwiegend organisatorischen Schwierigkeiten, schlossen wir eine Phase inhaltlicher Auseinandersetzung an: jede Pädagog*in nahm eine *Sternstunde* auf Video auf und wir besprachen die Aufnahme anschließend im Team. Auf diesem Weg erarbeiteten wir viele zentrale Fragen, mit denen wir uns im Folgenden auseinander setzten: Fragen nach „richtigem pädagogischen Handeln“, z.B. wann setze ich Grenzen, warum ermutige ich wann wen worin – was ist mein inneres Bild „richtiger Kindheit“, „richtigen Spielens“… Eine weitere wichtige Frage, die sich in diesem Prozess herausschälte, war die nach „richtiger Sprachförderung“ und der Rolle der Pädagog*in in der Begleitung der Sprachentwicklung. Auch entstanden Fragen nach der eigenen Position und Vorbildfunktion (z.B. im Hinblick auf Geschlechterrollen) und den Themen der Kinder, inwieweit man diese steuern, motivieren muss, über den Tellerrand zu schauen, oder ob Mädchen sich „hemmungslos“ für das Puppenspiel und Jungs für das Spiel mit Autos begeistern „dürfen“. Auch entstanden Fragen um Mehrsprachigkeit, wie diese Ressource gut begleitet werden kann und inwiefern „Wertungen“ von Sprachen in der Sprachentwicklung eine Rolle spielen. Auch wurde in der Phase der Besprechung von Videoaufnahmen die Frage nach der Teamkultur aufgeworfen – die Anforderung, das eigene pädagogische „Können“ im Kolleg*innenkreis zur Diskussion zu stellen, bedarf einer großen Portion Vertrauen in das Team und machten die unabdingbare Voraussetzung des ganzen Unterfangens deutlich, Entwicklungsprozesse der Erwachsenen genauso wertschätzend anzuerkennen wie die der Kinder.
Zum Weiterlesen:
Zur vertiefenden Auseinandersetzung mit einer professionellen Unterstützung von Kindern in der Sprachentwicklung empfehle ich Brigitte Krugs Text „Beziehungsvoll gestaltete Alltagssituationen in Kinderkrippen. Ihre Relevanz für sozial-kommunikative Entwicklungsprozesse von Kindern unter drei Jahren“ .
Die Broschüre „Alltagsintegrierte und systematische Sprachbildung: Aus der Praxis – Für die Praxis“ der städtische Eigenbetriebe für Kindertageseinrichtungen FABIDO in Dortmund zeigt, wie die *Sternstunden* über ein alltagsintegriertes Konzept systematische Sprachbildung verankern. Über Checklisten werden zentrale Momente des pädagogischen Alltags auf ihre sprachbildende Qualität erfasst und damit die Sensibilisierung für sprachbildendes Verhalten der Pädagog*innen im Sinne eines Selbstbildungsprozesses angeregt.