Zwischen Freiraum und Sicherheit – Kinder und ihre Privatsphäre
Kinder haben sowohl zu Hause als auch in der Kita eine private Welt mit persönlichen Gefühlen, Dingen und Geheimnissen, die sie für sich behalten wollen – und sollen.
Lea und Pepe ziehen sich im Garten der Kita immer öfter in das Gebüsch zurück, um dort ungestört vor den Blicken der pädagogischen Fachkräfte miteinander zu spielen.
Einige Kinder zeigen sich gegenseitig persönliche Schätze, die sie von zu Hause mitgebracht haben. Dabei flüstern sie und verstecken die Gegenstände, sobald sich die Erzieherin nähert.
Pia möchte seit einiger Zeit allein auf die Toilette gehen. Es ist ihr sehr wichtig, dass die Tür geschlossen bleibt und sie keiner stört.
Die Privatsphäre von Kindern spielt eine wichtige Rolle für die Entwicklung ihrer Ich-Identität und Persönlichkeit und sollte deshalb von Erwachsenen respektiert werden. Durch die Abgrenzung zwischen sich und der Welt erfahren Kinder, dass sie eine eigene Persönlichkeit haben, mit einem eigenen Willen, eigenen Gedanken und Gefühlen. Gleichzeitig lernen sie, dass auch die anderen Kinder und Erwachsenen individuelle Menschen mit individuellen Charakteren und Bedürfnissen sind, die akzeptiert werden müssen. Der Schutz dieser persönlichen Bedürfnisse und Charaktereigenschaften jedes Menschen wird in den sogenannten Persönlichkeitsrechten gebündelt.
Persönlichkeitsrechte: Mehr als nur Bildrechte
Kindern stehen – ebenso wie Erwachsenen – Persönlichkeitsrechte zu. Diese lassen sich sowohl aus den ersten beiden Artikeln des Deutschen Grundgesetzes als auch aus den von der UN-Kinderrechtskonvention verabschiedeten Kinderrechten ableiten. Demnach haben Kinder das Recht auf eine freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit, wozu auch das Recht auf Privatsphäre gehört.
Momentan werden die Persönlichkeitsrechte und die damit verbundene Privatsphäre von Kindern vor allem im Kontext digitaler Medien und Fotos bzw. Bildrechten thematisiert. Wenn man beispielsweise im Internet nach „kindlichen Persönlichkeitsrechten“ sucht, werden zunächst unzählige Beiträge zur Veröffentlichung von Kinderfotos und deren (rechtliche) Folgen aufgeführt. Das ist im Zeitalter der Digitalisierung, in dem es immer einfacher wird, Schnappschüsse aus dem Familien- und Alltagsleben auf Internetplattformen hochzuladen, auch wichtig. Erwachsene entscheiden oft über die Köpfe der Kinder hinweg, welche Fotos sie von ihnen mit wem teilen. Welche rechtlichen Herausforderungen bei Foto- und Filmaufnahmen in der Kita zu beachten sind, können Sie in unserem Gastgespräch zu diesem Thema nachlesen.
Trotzdem beziehen sich Persönlichkeitsrechte und Privatsphäre auch auf viele andere Aspekte der Kindheit, die ebenfalls eine wichtige Rolle spielen und nicht außer Acht gelassen werden sollten. Dazu gehören u. a. Individualität und persönliches Eigentum, Intimsphäre oder Rückzug.
© FRÖBEL e.V. Foto: Franziska Werner
Individualität und soziale Gemeinschaft
Kinder möchten Teil einer sozialen Gruppe sein, denn die Regeln und Rituale dieser Gemeinschaft geben ihnen Orientierung und damit Sicherheit und Vertrauen. Sie bauen auf regelmäßige Abläufe und Routinen, die für sie wie Ankerpunkte sind und die sie durch den Kita-Alltag begleiten. Doch so sehr sie sich einen verlässlichen Orientierungsrahmen und die Zugehörigkeit zu einer stabilen Gruppe wünschen, genauso schätzen sie die Möglichkeit, diesen Rahmen aktiv mit- und umzugestalten, sich selbst innerhalb dieser Struktur zu entfalten und individuell auszudrücken. Und manchmal möchten Kinder eben auch aus diesem Rahmen ausbrechen, sich zurückziehen und für sich sein. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und das Bedürfnis nach Privatsphäre schließen sich also keinesfalls gegenseitig aus.
Kinder brauchen private Orte, an denen sie sich entweder allein oder mit ihren Freund*innen persönlichen Dingen, Tätigkeiten oder Anliegen widmen können. Sie brauchen einen Platz in der Kita, an dem sie ihr persönliches Eigentum sicher und geschützt vor den Blicken anderer aufbewahren können, z. B. in dafür vorgesehenen Eigentumsfächern, -kisten oder -beuteln. Mehr zu diesem Thema können Sie in unserem Beitrag „Warum alle Kinder ein Eigentumsfach in der Kita haben sollten“ erfahren.
Zum persönlichen Eigentum gehören Dinge, die die Kinder von zu Hause mitgebracht haben sowie kleine Schätze, die sie in der Kita selbst gebastelt oder auf einem Ausflug gesammelt haben. Das Mitbringen oder Sammeln persönlicher Gegenstände sollte in der Einrichtung nicht verboten werden, damit die Kinder sich hier mit ihrer individuellen Persönlichkeit willkommen fühlen und einen Teil ihrer Privatsphäre ausleben können (vgl. Nentwig-Gesemann; Walther; Thedinga 2017, S. 27 ff.).
Intimsphäre
Ein wichtiger Aspekt der Privatsphäre ist die Intimsphäre des Kindes, welche eng mit der Entwicklung des Schamgefühls zusammenhängt. Körperliches Schamgefühl kann bereits ab 18 Monaten auftreten und ist wichtig, um persönliche Grenzen gegenüber anderen zu ziehen und sich ggf. vor sexuellem Missbrauch schützen zu können. In den ersten zwei Lebensjahren entwickelt sich die Grundlage für ein gesundes Körpergefühl (Ditfurth / Schälin 2008, S. 34). Umso wichtiger ist es, Kindern von Beginn an zu zeigen, dass ihre Intimsphäre respektiert und geschützt wird.
Das heißt nicht, dass sie nie nackt sein dürfen, im Gegenteil: viele Babys und (Klein-)Kinder fühlen sich ohne Kleidung sehr wohl, weil sie so ihren Körper besser wahrnehmen und sich freier bewegen können, z. B. am Strand, im Bad oder bei warmem Wetter im Garten. Aber das trifft nicht auf alle Kinder zu und lässt sich auch nicht verallgemeinern. Es gibt Kinder, die schon relativ früh beginnen, sich zu „schämen“ und die sich – zumindest in der Öffentlichkeit oder vor Fremden – nicht gern nackt zeigen. Außerdem kann sich ein Kind im Wasser oder am Strand unbekleidet sehr wohl fühlen, möchte aber auf der Toilette oder beim Wickeln lieber seine Ruhe haben. Schamwände in den Toiletten und ruhige Wickelplätze, die nicht für jede*n Besucher*in der Einrichtung einsehbar sind, sind deshalb in jeder Kita ein Muss. Wie sie Wickelsituationen als Beziehungs- und Bildungsmomente gestalten können, erfahren Sie in unserem Beitrag „Wickeln und Sauberkeitsentwicklung in der Kita“.
Generell gilt: Ermöglichen Sie den Kindern Erfahrungsräume, aber in einem geschützten Rahmen. Kinder sollten in der Einrichtung vor den Blicken anderer, vor allem fremder Personen geschützt werden, denn sie haben ein Recht auf Privatsphäre – und zwar von Geburt an. Im Säuglings- und Kleinkindalter haben Kinder jedoch häufig noch kein Schamgefühl oder können ihre Rechte auf Intimität und Privatsphäre noch nicht selbst einfordern. Es liegt dann in der Verantwortung der Erwachsenen, genau das für sie zu übernehmen.
© FRÖBEL e.V. Foto: Alice Vogel
Rückzug und Aufsichtspflicht
Wenn wir davon ausgehen, dass die Privatsphäre ein nicht-öffentlicher Bereich ist, der nur die eigene Person betrifft und in dem jeder Mensch in Ruhe seinen persönlichen Angelegenheiten nachgehen kann, dann brauchen Kinder in Kitas Orte, an denen sie genau dies tun können. Vor allem Kinder über drei Jahre benötigen ab und zu die Möglichkeit, sich dem doch manchmal turbulenten Gruppengeschehen zu entziehen und entweder allein oder zu zweit bzw. zu dritt ungestört zu sein. „Ungestört“ bedeutet in diesem Fall, dass sie sich zwar von anderen Kindern zurückziehen, die pädagogische Fachkraft aber trotzdem den Überblick über die gesamte Gruppe behält und in regelmäßigen Abständen nach den Kindern schaut. Aus pädagogischer Sicht geht es letztendlich darum, das Recht der Kinder auf Privatsphäre und Rückzug mit der Aufsichtspflicht in Einklang zu bringen.
Rückzugsmöglichkeiten können auf verschiedene Art und Weise gestaltet werden, z. B. durch:
- die Abgrenzung von Bereichen durch Möbel (z. B. durch Regale, Paravents, Vorhänge oder andere Raumtrenner)
- feste Regeln, nach denen die in bestimmten Bereichen spielenden Kinder nicht gestört werden dürfen
- eine Begrenzung der Kinderzahl in bestimmten Bereichen
- eine Hochebene im Gruppenraum
- Funktionsbereiche, deren Nutzung nur eine begrenzte Kinderzahl zulässt (diese Bereiche können auch eine Doppelfunktion haben wie z. B. Lese- oder Kuschelecken)
- Spielhäuser (im Außen- und/oder Innenbereich)
Wenn es um die Privatsphäre von Kindern geht, ist es wie mit vielen pädagogischen Themen: es beginnt mit der Haltung der pädagogischen Fachkräfte. Wir müssen Kinder als eigenständige Persönlichkeiten wahrnehmen und akzeptieren und ihnen Bereiche und Möglichkeiten für ihre privaten Angelegenheiten zur Verfügung stellen. Und manchmal müssen wir eben auch aushalten, dass wir nicht alles von den uns anvertrauten Kindern wissen können und ihnen ihre Geheimnisse lassen.
Verweise
Ditfurth, A. v.; Schälin, J. (2008): Sexualentwicklung – was müssen wir wissen, um die Kinder optimal zu begleiten? mmi Jahresbericht. Verfügbar unter: https://www.mmi.ch/files/downloads/16a0239113eb7ecd249b01aa7435d439/sexualentwicklung.pdf. Zugriff am: 18.09.2019.
Nentwig-Gesemann, I., Walther, B., Thedinga, M. (2017) Kita-Qualität aus Kindersicht. Eine Studie des DESI-Instituts im Auftrag der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. Berlin: Deutsche Kinder- und Jugendstiftung & Institut für Demokratische Entwicklung und Soziale Integration (Hrsg.).
Ich denke auch, dass es wichtig ist, für Ihr Kind Entscheidungen zu treffen, wenn es um Fotos geht. Glücklicherweise können Sie Ihre eigenen Entscheidungen treffen, wenn Ihr Kind in die Kinderbetreuung geht. Ich denke, es ist gut, nicht zu viel online zu teilen.