Das Zusammenleben von Menschen und Tieren gestalten
Der Erziehungswissenschaftler Dr. Oktay Bilgi ist Koordinator des Master-Studiengangs „Bildung und Förderung in der frühen Kindheit“ an der Universität Köln und forscht zum Thema Mensch-Natur-Verhältnis, das sich auf eine ethisch-pädagogische Perspektive bezieht. Für sein Forschungsvorhaben hat er mit dem Kölner FRÖBEL-Kindergarten Die Spürnasen kooperiert und ein halbes Jahr lang das Zusammenleben von Menschen und Tieren im Kindergartenalltag beobachtet.
Die Einrichtung hat die tiergestützte Pädagogik als einen Schwerpunkt im Kitaalltag verankert. Tagtäglich kümmern sich die Kinder gemeinsam mit den Fachkräften um die Kita-eigenen Hühner, Stabschrecken, Ameisen und die Hündin Sky. Der Forschungsschwerpunkt von Dr. Oktay Bilgi lag auf der Frage, wie sich die Beziehung zwischen Menschen und Hühnern im gemeinsamen Erleben entwickelt. Er ging vor allem den Fragen nach, wie alle Beteiligten den Ort des Zusammenlebens gestalten und welche (Haltungs-)Veränderungen die Begegnungen mit den Hühnern bei den Kindern und den pädagogischen Fachkräften bewirkt. In diesem Interview berichtet er von seinen Erkenntissen aus der Forschungskooperation mit den „Spürnasen“.
Warum ist für Sie das Verhältnis zwischen Menschen und Hühnern besonders spannend?
Mich interessieren ethisch-ökologische Fragen des Zusammenlebens, die die Interaktion zwischen Menschen und Tieren rahmen. Hühner sind ein exemplarisches Beispiel dafür, wie wir Menschen mit sogenannten Nutztieren in der Gesellschaft umgehen. Wenn wir uns die Industrielle Tierhaltung ansehen, speziell unter welch quälerischen und unwürdigen Umständen Tiere dort gehalten werden, bevor sie geschlachtet werden, dann führt das unweigerlich zu einer tierethischen Fragestellung: Wie können wir legitimieren, dass wir anderen Lebewesen solch ein Leid zufügen, um unser Konsumverhalten zu stillen?
Für diesen Diskurs ist das Huhn ein gutes Beispiel. Besonders bei den „Spürnasen“ war der hohe tierethische Anspruch, aber auch Fragen zu einem gewaltfreien und friedvollen Zusammenleben zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen ein wichtiges Thema. Sie haben sich bewusst für Tiere von Rettet-das-Huhn e. V. entschieden. Was mich in der Einrichtung begeistert hat, war, was durch diese Hühner in Bewegung gesetzt wurde. Es ist ein richtiger Hühnerort entstanden, beeinflusst vom Engagement der Fachkräfte, Kinder und Eltern. Mit der Entstehung dieses Ortes sind zugleich neue Formen von Beziehungen, Haltungen und zukunftsweisenden Fragen entstanden. Und dieser Ort ist bis heute in Bewegung. Es entwickeln sich immer wieder neue Ideen und Gedanken.
Was hat der Umgang mit den Tieren in der Haltung der Fachkräfte und Kinder den Tieren gegenüber verändert?
Die Wahrnehmung der Legehennen hat sich verändert – aus Objekten der Industriellen Haltung wurden Subjekte, die respektiert werden. Diesen Transformationsprozess haben die Kinder unmittelbar miterlebt. Sie haben sich gefragt: Warum sehen unsere Hühner eigentlich so gerupft aus und warum werden sie ständig krank? Das Verhältnis zur Natur wird in der konkret sinnlich-körperlichen Begegnung mit den Hühnern für Kinder ganz anders greifbar, als wenn sie in den Supermarkt gehen und eine Packung Geflügelwurst kaufen. Sie kommen mit vielen grundlegenden Fragestellungen des Lebens in Berührung, auch mit Tod und Trauer.
Dazu muss man wissen, dass Legehennen aus der Industriellen Haltung besonders verletzbare Wesen sind. Sie hatten u. a. nie zuvor Tageslicht gesehen und wurden ihr Leben lang mit Antibiotika behandelt. Das allein war schon eine schwierige Situation, was den Gesundheitszustand der Tiere angeht, sodass einige Tiere innerhalb kurzer Zeit in der Kita verstorben sind.
Wie sind die Fachkräfte und die Kinder mit dieser Erfahrung umgegangen?
Die pädagogischen Fachkräfte haben sich ein Ritual überlegt, um mit den Kindern gemeinsam von den verstorbenen Hühnern Abschied zu nehmen. Sie haben zusammen eine Abschiedskerze gestaltet und einen Sitzkreis gemacht. In dem Sitzkreis durften die Kinder Wünsche für das verstorbene Huhn aufschreiben lassen. Die Kinder haben dem verstorbenen Huhn dann beispielsweise ein neues Küken im Himmel gewünscht, oder auch viele leckere Würmer und ein schönes neues Federkleid.
Das hat den Kindern die Möglichkeit gegeben, den Tod nicht nur als etwas Belastendes zu erleben, sondern auch als Möglichkeitsraum, den sie mit ihrer Fantasie füllen können. Das Thema Tod und Trauer klingt erstmal negativ, aber dieser Prozess, so wie er bei den „Spürnasen“ gelebt und gestaltet wird, ist auch mit viel Freude und Schönheit verbunden.
Diesen Prozess mit zu erleben, die Feinfühligkeit und Responsivität der pädagogischen Fachkräfte in den verschiedenen unerwarteten Situationen und ihre Kreativität und ihren Mut, das hat mich bewegt und auch sehr beeindruckt.
Wie sind Sie bei Ihrer Forschung vorgegangen? Was waren einzelne Untersuchungsgegenstände/ Aspekte der Forschungsarbeit?
Ich arbeite aus einer ethnografischen Forschungsperspektive, die es mir erlaubt unterschiedliche methodische Zugänge im Forschungsfeld anzuwenden. Diese Perspektive eignet sich besonders gut, wenn man im Forschungsfeld immer wieder unerwarteten Situationen begegnet und für diese offen sein möchte. Ich habe teilnehmende Beobachtungen im Außenbereich vorgenommen und dabei eine feste Gruppe von Kindern und pädagogischen Fachkräften bei der Interaktion mit den Hühnern begleitet. Zudem habe ich Gruppengespräche mit Kindern und Interviews mit pädagogischen Fachkräften geführt. Teilweise habe ich auch Bilder von den Orten und Zeichnungen der Kinder verwendet.
Bei der Auswertung habe ich vor allem phänomenologische Methoden verwendet. Dabei werden alltägliche und theoretische Vorannahmen erst einmal eingeklammert und man versucht die konkreten Erlebnisse und jeweiligen Erfahrungen in der Situation nachzuvollziehen. Ich habe dabei Orte im Kindergarten mit Blick auf ihre soziale sowie ethische Bedeutsamkeit beschrieben: Welche Beziehungen entstehen an den Orten? Welche Gefühle von Zugehörigkeit sind hier wichtig? Welche Bindungen gibt es? Wie gestalten Menschen und Hühner diese Orte gemeinsam, damit es ein lebbarer Ort für alle werden kann?
Auch die Frage der Sozialraumorientierung kam während meiner Zeit der Forschung auf. Es wurde überlegt, ob auch das Seniorenheim in der Umgebung an der Pflege der Hühner beteiligt werden kann. Bei der Auswertung der Ergebnisse sind daraus verschiedene Ortsgeschichten entstanden. Ich glaube, dass diese Geschichten wichtig sind, um beispielhaft Transformationsprozesse anzustoßen. Sie können eine Orientierung und positive Impulse geben, die wir als Gesellschaft dringend brauchen, um die gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit reflektieren und verändern zu können.
Was sind die zentralen Ergebnisse? Gab es vielleicht überraschende Erkenntnisse?
Die Forschung läuft weiter, es gibt noch einige Daten, die ich noch nicht weiter ausgewertet habe. Im Bereich der Nachhaltigkeitsforschung, wenn über Veränderung nachgedacht wird, geht es häufig nur um das Subjekt, das zur Weiterentwicklung stetig neue Kompetenzen erlangen muss. Die Ergebnisse, zu denen ich gelangt bin zeigen aber, dass die Veränderungsprozesse mehrstufig und in einem dynamischen Geflecht eingebunden sind. Die Veränderungen, die in den Einrichtungen stattgefunden haben, an den Orten, in den sozialen Beziehungen und in der Struktur des Alltags, laufen in einem dynamischen Prozess ab.
Das heißt auch, wenn wir eine Veränderung erzielen wollen, reicht es nicht aus, nur neues Wissen anzuhäufen, sondern wir müssen gemeinsam unsere Lebensorte umgestalten, neue Lebensformen mit anderen Lebewesen erproben.
Mehr Beiträge zur Bildung für nachhaltige Entwicklung finden Sie in unserer Kategorie BNE.
Ein weiteres Ergebnis ist, dass wichtige pädagogische Prozesse im Vorfeld nicht planbar sind. Es gibt so viele Konzepte, die zu mehr Nachhaltigkeit führen sollen. In meinen Beobachtungen hat sich jedoch gezeigt, dass diese Prozesse häufig durch unerwartete Ereignisse angestoßen werden. Und dann braucht man ein Team, dass auf diese Ereignisse feinfühlig und bewusst reagiert und sich darauf einlässt. Wenn sich die pädagogischen Fachkräfte auf diese Prozesse einlassen, dann braucht es auch den Mut, gewisse Regeln und Selbstverständlichkeit zu hinterfragen. Dies kann also im letzten Schritt zu einer Veränderung der Institutionen führen z. B. zu einem Aufbrechen von Strukturen und Prozessen oder dem Schaffen neuer Orientierungen, Routinen und Regeln.
Was ist Ihrer Meinung nach am wichtigsten bei der Gestaltung des pädagogischen Umgangs mit Tieren in einer Kita? Welche pädagogische Haltung braucht es dafür?
An erster Stelle muss die Fachkraft authentisch sein. Da gab es auch ein wunderbares Beispiel, in dem das deutlich wird. In einem Interviewgespräch mit einer Fachkraft aus dem Krippenbereich, berichtete sie, dass die ganz kleinen Kinder erstmal nicht wussten was passiert, als in dem Trauerprozess ein Bild von dem Huhn in der Mitte des Sitzkreises war. Und dann kamen andere Fachkräfte, haben sich unterhalten und man hat gesehen, dass sie traurig waren, dass die Hühner Tod sind.
Da änderte sich plötzlich die Atmosphäre, die Kinder wurden auch traurig. Und das ist für mich Partizipation, die durch das authentische Handeln ermöglicht wird. Partizipation ist nicht, wie häufig missverstanden wird, eine verfahrensorientierte Individualisierung, sondern eine Einladung in das gemeinsame Sein, in einen Prozess des gemeinsamen Werdens. Die Trauer der Fachkräfte muss durch Körperlichkeit und Leiblichkeit vorgelebt werden, damit die Kinder die Bedeutung des Geschehens sinnhaft miterleben und dazu befähigt werden teilzunehmen: „Ah, man trauert so, das kann ich auch machen.“
Gleichzeitig braucht es Offenheit um ungewisse Situationen aushalten zu können. Für den Umgang mit Tieren in der Kita braucht es Übersetzungsleistung. Wir haben keinen unmittelbaren Zugang zu Hühnern, Was wollen die Hühner von uns eigentlich und wie können wir angemessen darauf antworten? Dahinter steht zunächst nicht die empirische Frage, wie Kinder und Hühner miteinander kommunizieren. Vielmehr stellt sich die Frage, welche ethischen Aufforderungen in der Begegnung mit Hühnern wichtig werden, um gewohnte Selbstverständlichkeiten und Vorurteile zu irritieren und neue Sichtweisen zu entwickeln.
Dahinter steht auch die wichtige Frage von Demokratiebildung. In einem Interview mit einer pädagogischen Fachkraft ging es bspw. um das Thema: Was können wir von einer Spinne über demokratische Bildung lernen? Hier geht es um die Frage von Verletzbarkeit. Wie gehe ich mit dem Anderen um? Welche Vorurteile habe ich dem Anderen gegenüber? Ist die Spinne wirklich so gefährlich, wie wir alle gedacht haben? Ist sie wirklich so eklig? Können wir die Spinne vielleicht ganz anders betrachten? Das sind alles wichtige Fragen, sowohl in der Begegnung zwischen Menschen, als auch in der Begegnung mit Tieren. Wir verstehen den „Appell“ der Spinne nur, wenn wir offen sind und uns auf kreative Wege einlassen.
Wie geht es mit Ihren Forschungen zu dem Thema nun weiter?
Zukünftig wird mich die Frage beschäftigen, wie solche lebendigen Prozesse, die in der Einrichtung passieren, auf die institutionelle Ebene übertragen und weitergedacht werden können. Ich denke, dass eine nachhaltige Transformation der Art und Weise, wie wir lernen können, gemeinsam zu leben auch wichtige Veränderungen auf der Ebene Institution voraussetzt. Mir begegnet immer wieder das Dilemma, zwischen dem, was Fachkräfte wollen und den institutionellen Möglichkeiten und strukturellen Bedingungen, die sie häufig ausbremsen und zu Frustration führen. Wie können Institutionen so verändert werden, dass diese lebendigen Prozesse ermöglicht werden? Wie können die unterschiedlichen Bedürfnisse aller – auch der Fachkräfte – in der Kita berücksichtigt werden und zum Entstehen von Orten des gemeinsamen Zusammenlebens beitragen? Es geht darum, nach neuer Lebensform in der Kita zu suchen, die viel Gestaltungsspielraum für das gemeinsame Handeln lässt, mit vielen Übersetzungsleistungen von verschiedenen Bedürfnissen. Dem möchte ich in Zukunft weiter nachgehen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Tipp
Der FRÖBEL Kindergarten „Die Spürnasen ist eine Konsultationseinrichtung mit dem Schwerpunkt Bildung für nachhaltige Entwicklung. Im März bietet der Kindergarten einen kostenfreien Konsultationstermin gemeinsam mit Herrn Dr. Oktay Bilgi an:
- 29.3.2023: Onlinekonsultation „Forschung trifft Praxis: Zusammenleben von Menschen und Tieren“
Zum Weiterlesen
Sie möchten mehr über dieses Thema erfahren? Dann empfehlen wir Ihnen unser Themenheft „Lernen mit Tieren – Tiergestützte Pädagogik in Kitas„!
Gastautor
Dr. phil. Oktay Bilgi ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Unviversität zu Köln und verantwortet hier die Studiengangskoordination „Bildung und Förderung in der frühen Kindheit“ (MA). Als Erziehungswissenschaftler liegen seine Arbeitsschwerpunkte unter anderem in der Theoriebildung in der Pädagogik der frühen Kindheit im gesellschaftlichen Wandel sowie in der Phänomenologie der Mensch-Natur-Beziehungen.